Anna Maierhofer

Das Lied vom Spiegelgrund

Anna Maierhofer wurde am 22. März 1927 als Tochter von Marie und Ferdinand Markisch geboren. Ihre Mutter bekannte sich zu den Zeugen Jehovas und erzog ihre Tochter nach deren religiösen Vorstellungen.

Ich bin in einem liebevollen Elternhaus aufgewachsen. Meine Mutter war eine Zeugin Jehovas und mein Vater war Sozialdemokrat. Er hat sich mit den Glaubensansichten der Zeugen Jehovas befasst und fand sie für meine Erziehung gut.

In meinem 14. Lebensjahr habe ich aus freien Stücken die Entscheidung getroffen, aus Überzeugung meines Glaubens sowohl den Hitlergruß zu verweigern als auch für Wehrzwecke nicht zu sammeln. Aufgrund eines Schulaufsatzes, der meine ablehnende Haltung zum Thema Krieg zum Ausdruck brachte, wurden meine Mutter und ich von der neuen Lehrerin angezeigt.

Am 10. Februar 1941 wurden meine Mutter und ich von der Gestapo verhaftet. Trotz stundenlangen Verhören und der Androhung, in einer Zelle Schläge zu erhalten, wenn ich nicht die Namen der Glaubensbrüder nenne, hatten sie bei mir keinen Erfolg. Ich wurde noch am selben Tag von einer Fürsorgerin in die Kinderübernahmestelle [1] gebracht. Die Gestapo und die Angst, was mit meiner Mutter geschieht, ob man sie in ein KZ bringt, waren ein großer Schock für mich.

Von der Kinderübernahmestelle wurde ich am 5. März 1941 in das Erziehungsheim am Spiegelgrund [2] in den Mädchenpavillon Nr. 5 eingewiesen. Ein Mal im Monat konnten uns die Eltern besuchen. Bevor der Besuchstag kam, war wieder die große Angst und Ungewissheit: Werde ich meine Mutter je wieder sehen? Am Tag des Besuchs war es teils eine freudige Überraschung, weil ich meine Mutter sah und zugleich war es aber auch sehr schmerzhaft.

Meine Mutter kam in Trauerkleidung. Sie sagte mir, dass mein Vater am Tag unserer Verhaftung plötzlich verstorben sei. Man hatte ihr verboten, mir den Tod des Vaters mitzuteilen – sonst dürfe sie mich nicht mehr besuchen. Es war für mich der größte Schmerz, dass ich meine Trauer um den geliebten Vater nicht zeigen durfte.

Es herrschte ein derartiger Drill. Wir mussten Ende März ständig barfuß gehen, ab Ende April in Badekleidung von der Anstalt. Es hieß: "Das sind Sparmaßnahmen." Ich habe mir dadurch ein Nierenleiden zugezogen. Am kalten Steinboden mussten wir oft stundenlang Strafe stehen.

Einige Male musste ich zur Umerziehung zum Heimleiter Dr. Krenek [3]. Seine Methode war: "Wenn du Heil Hitler sagst und mitmachst was der Führer will, wird es dir gut gehen. Bleibst du aber weiter so bockig, dann wirst du deine Mutter nie wieder sehen."

Am nächsten Besuchstag erzählte mir meine Mutter, dass sie noch eine Gerichtsverhandlung hat. So hatte ich von neuem Angst, dass ich sie verlieren könnte. Unter derartigem Drill und derartigen Drohungen schloss ich die Schule ab und wurde am 10. Juli 1941 in die Erziehungsanstalt Klosterneuburg überstellt. Ich empfand es als eine Art Arbeitslager für Mädchen. Wir mussten schwere Gartenarbeit verrichten, wie zum Beispiel Baumstümpfe ausgraben.

Damals hatte meine Mutter ihre Verhandlung. Ich musste als Zeugin dabei sein. Sie wurde wegen ihrer Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Nach der Befreiung habe ich einen jahrelangen Kampf um die Anerkennung als Opfer der NS-Diktatur geführt. Ich hatte erfahren, dass Dr. Krenek wieder der Leiter eines Jugendheimes war. Ich war empört, denn das hieß praktisch, dass dieser ehemalige Leiter eines Nazi-Erziehungsheims schon wieder als Erzieher und Leiter tätig war. So bin ich zu diesem  Dr. Krenek gegangen. Er hat den Aufenthalt am Spiegelgrund verharmlost und gemeint, das sei ein ganz gewöhnliches Jugendheim gewesen. Ganz von alleine erwähnte er, dass er sich auch noch an jemand anderen erinnern kann, der mit Injektionen gequält worden ist. Das bedeutet aber, dass noch in den 1960er Jahren ein Mitverantwortlicher vom Spiegelgrund selbst zugegeben hat, dass an den Kindern Injektionen zur Bestrafung und zu Versuchszwecken vorgenommen wurden.

Abschließend möchte ich noch hinzufügen, dass ich außer dem zuvor erwähnten Nierenleiden auch noch an Depressionen leide, wenn ich an den Tod meines Vaters denke. Er ist nämlich in Wirklichkeit der Euthanasie zum Opfer gefallen. Er war zum Zeitpunkt unserer Verhaftung im Krankenhaus Lainz wegen eines Gefäßleidens in Behandlung und ist dort am selben Tag  durch eine Injektion, die eine künstliche Lungenentzündung hervorruft, ermordet worden. Als offizielle Todesnachricht wurde "Herzschlag auf Grund der Aufregung" angegeben.

Meine Cousine, Regina Markisch, war stark sprachgestört. Sie wurde ebenfalls am Spiegelgrund ein Opfer der Euthanasie und durch eine Injektion ermordet.

Anna Maierhofer hat folgendes Lied, das von den Kindern am Spiegelgrund gesungen wurde und die dortigen Zustände beschreibt, niedergeschrieben:

Die Fenster vergittert mit Eisen,
die Türen versperrt mit dem Schloss,
Steinhof ist unser Genoss.

Und woll'n uns die Eltern besuchen,
man empfängt sie mit Schimpfen und Fluchen,
besuchen darf ja nicht sein.

Ist unsere Strafe zu Ende,
man reicht uns zum Abschied
mit Schimpfen und Fluchen die Hände.
Betretet mir nicht mehr das Haus!

"Was suchst du mein Mädel in stockfinsterer Nacht?"
"Ich suche meinen Vater und meine Mutter, die ich so früh verloren hab.
Mein Vater ist gestorben an Kränkung, meine Mutter an Not,
am Simmeringer Friedhof liegen sie beide tot."

Anna Maierhofer ist am 27. August 2009 gestorben.

Eine kurze Fassung ihrer Lebensgeschichte wurde unter dem Titel "Das Lied vom Spiegelgrund" im lebensgeschichtlichen Band "Erinnerungen" der Jubiläumspublikation zum 15-jährigen Bestehen des Nationalfonds 2010 veröffentlicht und fand - jetzt ausführlicher und ergänzt um einige Fotos - unter dem Titel "Mädchenpavillon Nr. 5" auch Eingang in den 2012 erschienenen Band 2 der Buchserie "Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus".

[1] Die Kinderübernahmestelle diente bereits vor 1938 als Aufnahme- und Verteilungsstelle für Kinder und Jugendliche, die in öffentliche Fürsorge genommen wurden. Während der NS-Zeit war die Kinderübernahmestelle für die Überstellung vieler behinderter Kinder an Tötungsanstalten wie "Am Spiegelgrund" verantwortlich.
[2] In der berüchtigten Kinderanstalt "Am Spiegelgrund", errichtet im Juli 1940 auf dem Gelände der "Heil und Pflegeanstalt Am Steinhof" in Wien, wurden bis 1945 im Zuge der nationalsozialistischen "Kindereuthanasie" fast 800 kranke oder behinderte Kinder ermordet.
[3] Dr. Hans Krenek, zunächst pädagogischer Leiter der Jugendfürsorgeanstalt, ab 1942 Direktor des Erziehungsheimes am Spiegelgrund.