Erika Nemschitz

Selbst Erlebtes und Erlauschtes aus einer schrecklichen Zeit

Erika Nemschitz wurde 1932 in Wien geboren. Ihr Vater war Jude.

Wie ich für Herlango in Deutschland Reklame machte

Man suchte im Jahre 1937 für die Optik einer fahrbaren Riesenkamera ein Kindergesicht. Meine Tante war bei Herlango [1] beschäftigt, und so wurde ich für eine Photoserie eingeladen. Mein Aussehen sagte den Verantwortlichen zu, und man machte die nötigen Aufnahmen. Das Bild wurde dann in die Optik montiert und fuhr zu Reklamezwecken durch Wien. Nach 1938 wurde die Riesenkamera nach Deutschland gebracht und machte auch dort Reklame. Die für Deutschland Verantwortlichen, die größtenteils Parteigenossen waren, anderes war damals kaum möglich, ahnten nichts davon, dass das süße Wiener Kind, das sie aus der Optik anlächelte, nicht den Nürnberger Gesetzen entsprach. Ein Aprilscherz des Schicksals!

"Re-Arisierung"

Im Jahre 1938 erhielt meine Mutter eine Vorladung. Man schlug ihr auf diesem Amt vor, sich von meinem Vater zu trennen und zu behaupten, ich wäre nicht das Kind dieses Vaters. Mutti wäre lieber mit meinem Vater bis ans Ende der Welt gegangen oder hätte bei Wasser und Brot mit ihm gelebt (so ihre Aussage), als diesem Ansinnen zuzustimmen. Man hätte es lieber gesehen, dass ein deutsches Mädchen auch ein leichtes Mädchen gewesen wäre, als dass es einem Juden die Treue hält.

Auch das ist eine Art von Moral!

Wohnungskündigung

Auch uns wurde, wie allen unseren Leidensgefährten, die Wohnung gekündigt. Es war zwar nur eine Zimmer-und-Küche-Wohnung und kein Palais, aber man gönnte uns nicht einmal diese. Man hatte aber wieder einmal nicht mit Mütterchen gerechnet. Diese marschierte in die Drischützgasse, wo sie die dafür zuständige Stelle wähnte, und fragte dort ganz empört, wie man dazu käme, ihr – einer "Arierin" – die Wohnung zu kündigen. Man entschuldigte sich und bedauerte den Irrtum. Anmerkung zu "Arierin": Meine Mutter war 1931 zum jüdischen Glauben übergetreten, was auf der Rückseite ihres Geburtspasses vermerkt war. Das musste überdeckt werden, aber wie? Mama wusste Rat: Sie legte ihren Geburtsschein auf die heiße Ofenplatte und klebte das leicht gebräunte und brüchige Stück mittels Mehlkleister auf einen Leinenfleck. Erst nach ihrem Tod 1994 löste ich den Schein wieder von seinem Schutzschild.

Was ist schlimmer: Mama oder die Gestapo?

Mein Vater war bei der Firma Imperial-Feigenkaffee beschäftigt, nicht in leitender Position, aber in tragender – er trug die schweren Säcke mit Feigen. Also war er in keiner beneidenswerten Lage. Er leitete aber in seiner Freizeit den Sparverein und half in dieser Position oft Kollegen über finanzielle Engpässe (was damals keine Seltenheit war). Da er dies mit viel Menschlichkeit tat, war er auch beliebt. Und das schien bei manchen Neid zu erzeugen. Jedenfalls nützte ein solcher Kollege eine unbedachte Bemerkung, den Adolf betreffend, um meinen Vater zu denunzieren. Papa erhielt also eine Vorladung auf den Morzinplatz [2] – meine Mutter versorgte ihn noch mit Zigaretten und mit dem strikten Gebot: "Du sagst nichts!" und "Du weißt nichts!" und "Dabei musst du bleiben!!!" – Also betrat mein Vater das Zimmer und hatte das unwahrscheinliche Glück, einen zu dieser Zeit seltenen Menschen in der Uniform zu treffen. Nach längerer Unterhaltung und strenger Befolgung von Mamas Anweisungen entließ ihn der Mann mit der Bemerkung: "Sind Sie in Zukunft vorsichtiger!" Damit durfte Papa das Zimmer wieder verlassen. Später meinte er oft: "Ich hätte ja alles zugegeben, denn es hat ja gestimmt. Aber die Mama saß ja vor der Türe."

Und vor der hatte Papa anscheinend mehr Respekt als vor der Gestapo.

Aspangbahnhof

Einige Zeit nach der Geschichte mit der Denunziation wurde mein Vater entlassen und erhielt dann Beschäftigung in einem so genannten Judenbetrieb, das war ein Betrieb, in dem vorwiegend Juden arbeiteten. Die Zentrale dieser Firma "Wiener Papier" befand sich in der damaligen Meistersingerstraße – heute Mahlerstraße. Das Lager aber war auf dem Gelände des Aspangbahnhofes [3]. Und dort war mein Vater vorwiegend beschäftigt. Die Arbeit war für meinen Vater kein Problem, aber er konnte aus sicherer Entfernung die Abtransporte der Juden beobachten und kam oft sehr verzweifelt nach Hause. Er schilderte die Art und Weise der Verladung, und wenn heute jemand behauptet, er hätte nichts gewusst, muss ich das bezweifeln, denn etwas muss schon damals durchgesickert sein, aber viele wollten nichts wissen und viele wollten aus Angst nichts wissen.

Hausklingel

Mein Vater und ich hatten das Glück, durch unsere "arische" Gattin bzw. Mutter einen gewissen Schutz zu genießen. Dieser Umstand trug mir nach 1945 oft von Glaubensgenossen die Bemerkung ein, ich könnte ja nicht von Verfolgung reden, denn ich wäre erstens nicht im KZ gewesen und hätte zweitens nicht die Heimat entbehren müssen. Nun, vielleicht hätten wir manchmal gerne die Heimat entbehrt und wären nicht fast jede Nacht vom Klang der Haustorklingel aus dem Bett gescheucht worden. Das spielte sich dann folgendermaßen ab: Papa sprang aus dem Bett, packte seine Kleidung und verschwand in Richtung Dachboden, während ich mein Bettzeug in den Bettzeugraum meines Bettes stopfte und in Papas Bett übersiedelte. Wäre jemand gekommen, hätte Mama behauptet, Papa wäre abends nicht nach Hause gekommen. Wenn alles ruhig blieb, kehrten wir wieder in unsere Betten zurück. Dieses "Spiel" wiederholte sich manche Nacht öfters.

Schulverweis

Es war zu Beginn des Schuljahres 1941/1942. Eines Morgens betrat unsere Lehrerin Frau Marion B[...] – eine fanatische "Nazisse" – die Klasse. Kaum hatten wir uns nach der Begrüßung niedergesetzt, als sie mich aufrief. Ich erhob mich, und es folgte einer der demütigendsten Augenblicke meines Lebens. Vor versammelter Klasse erklärte sie mir, dass ich nicht würdig wäre, mit "arischen" Kindern die Schule zu besuchen. Ich möge meine Sachen zusammenpacken und die Klasse verlassen. Ich tat, wie mir geheißen, zog meinen Mantel an und schlich wie ein geprügelter Hund aus der Klasse. Es muss ihr ein besonderes Vergnügen bereitet haben, da ich außerdem Klassenerste war. Ich stieg die Treppen hinunter und wollte die Schule verlassen, als sich die Türe der Direktion öffnete und Oberlehrer Josef C[...] mich zu sich winkte. Er schloss hinter mir die Türe und versuchte mich mit den Worten zu trösten: "Weine nicht, auch das wird vorbeigehen."

Auch er trug das Parteiabzeichen, aber auch er war einer der Wenigen, die sich unter dem Abzeichen ein menschliches Herz bewahrt hatten. Ich besuchte dann noch ein Jahr lang die "Mischlingsschule" in der Grüngasse 14 im 5. Bezirk. Der tägliche Schulweg war, trotz der Begleitung durch meine Mutter, ein Spießrutenlauf. Ich durfte ja als Sternträgerin [4] nur die letzte Plattform der Straßenbahn benutzen.

Die Schule wurde mit dem Ende des Schuljahres geschlossen. Man versuchte, uns der Verblödung preiszugeben. Es fanden sich aber Menschen, die das zu verhindern wussten. Ein "getaufter" Schulkollege, der auch Ministrant war, und ich erhielten von Schwestern des Herz-Jesu-Klosters auf der Landstraße Unterricht in Deutsch, Englisch und Mathematik. Da der normale Unterricht durch die Bombenangriffe auch sehr mangelhaft war, fiel mir der Wiedereinstieg in den Schulbetrieb nach 1945 nicht schwer.

Ich begegnete Frau B[...] nach 1945 noch einmal. Sie erkannte mich wieder und kam lächelnd auf mich zu, die Hand zum Gruß, nicht erhoben, aber ausgestreckt. Ich glaube, dass mein Blick das Lächeln auf ihrem Gesicht gefrieren ließ.

Im Jahre 1982 traf ich eine Schulkollegin aus der Brehmstraße, wo ich meine ersten Schuljahre verbracht hatte, wieder. Ich hätte sie nicht mehr erkannt, sie aber erkannte mich wieder. Wir trafen uns einige Zeit später in einem Café und erinnerten uns an jene Zeit. Erna meinte: "Ich sehe dich noch heute vor mir, wie du aus der Klasse gegangen bist. Ich bin an diesem Tag heulend nach Hause gegangen und konnte das Erlebte nicht begreifen" (wir waren damals auch Freundinnen). Ich bezweifelte, dass sich ein Mensch, den diese Sache doch gar nicht betraf, daran erinnern könnte. Aber Erna erklärte: "Du trugst damals einen hellgrünen Mantel mit einem weißen Pelzkragen und die dazupassende Kappe." Die Beschreibung stimmte, und es zeigte mir, dass auch Kinder im Alter von ca. zehn Jahren ein Unrecht erkennen können.

Namensverleihung

Am 13. Mai 1941 wurde mir der Name "Sara" verliehen [5]. Die Art und Weise muss nicht angenehm gewesen sein. Die Erinnerung setzt erst wieder ein, als ich mit meiner Mutter auf der Donaukanalbrücke stand und auf den Wagen der Linie O wartete. Ich blickte in den Fluss und meinte, dass es für alle besser wäre, da hineinzuspringen. Meine Mutter riss mich an sich und hielt mich fest. Was so eine Bemerkung für eine Mutter bedeutet, kann man erst verstehen, wenn man selbst Mutter ist. Wir stiegen dann in die Straßenbahn ein, und meine Mutter bekam einen Sitzplatz. Sie zog mich an sich, als sich eine Volksgenossin bemüßigt fühlte, sich über meine Anwesenheit aufzuregen. Ein Arbeiter, der daneben stand, fauchte sie an und meinte, dass ein Kind nichts für seine Herkunft könne. Da, durch den Mut des Mannes ebenfalls ermutigt, einige Leute auch Stellung gegen sie nahmen, stieg sie bei der nächsten Station aus. Diese Episode zeigt, dass es auch Menschen gab, die trotz der Gefahr, in die sie sich begaben, nicht schwiegen und wegsahen.

Wie überlebt man mit Lebensmittelkarten, auf die man fast nichts bekommt?

Die Schilderung, was man auf diese Karten bekam, will ich mir ersparen. War schon die Normalzuteilung nicht zufriedenstellend – wir bekamen noch dementsprechend weniger. Also – wovon leben???

Wozu hat man Freunde von früher, die man kannte und auf die man sich verlassen konnte? Papa hatte solch einen Freund, und der war im Schlachthof St. Marx beschäftigt. Durch diesen erhielten wir das so genannte Bandlfett (Fett zwischen den Innereien). Wir ließen es aus und gaben es gegen Kunstseidenstrümpfe weiter. Diese gingen an einen Süßwarenbesitzer, und die erhaltenen Süßwaren gingen zum größten Teil an die Erstlieferanten (Fett) weiter. Bei diesem Kreislauf blieb immer etwas hängen, und davon lebten wir.

Nun war das Fettauslassen auch mit Geruchsentwicklung verbunden, was wieder eine Gefahrenquelle war. So geschah es während eines nächtlichen Fliegeralarms: Mein Vater war eben fleißig beim Fettrühren, als der Alarm losging. Mama ging in den Hof, wo bereits der Großteil der Hausbewohner versammelt war (mein Vater ging niemandem ab, da er als Jude nicht in den Keller durfte). Als man nun so beisammen stand, begannen einige in die Luft zu schnuppern und meinten, es röche nach ausgelassenem Fett. Auch meine Mutter beteiligte sich an der Schnupperei und "wunderte" sich, wer denn um diese Zeit Fett auslassen würde. Ihre Vorstellung war bühnenreif.

Marillenzeit

Es war eine unserer Hamsterfahrten ins Waldviertel. Mama hatte verschiedene Sachen in Wien für unsere Bekannten besorgt, für die wir nun lebenswichtige Lebensmittel erhielten. Diese mussten aber erst nach Wien gebracht werden – und das war nicht ungefährlich. Da der Weg von Harrau nach Krems sehr weit war und zu dieser Zeit kein Autobus verkehrte, mussten wir mit dem Milchwagen fahren. Es war eine ziemlich rumpelige Fahrt, aber sie brachte uns nach Krems. Angekommen, stiegen wir vom Wagen aus. Im gleichen Augenblick bemerkte ich, wie ein Gendarm auf uns zukam. Ich war zwar ein Kind, kannte aber die Gefahr, in der wir schwebten, und glaubte, meine Mutter warnen zu müssen. Ich flüsterte: "Mama, ein Gendarm!" – Darauf meine Mutter, die in jeder Hand ein Gepäckstück hatte: "Lass ihn nur kommen!" Der Mann kam näher und herrschte meine Mutter an: "Hab'n Sie Marillen?" Mama hielt ihm mit einem Lächeln im Gesicht die Gepäckstücke entgegen und sagte: "Net a anzige!" Worauf sich der Gendarm zufrieden entfernte. Erst heute nach so vielen Jahren begreife ich, wie viel Verzweiflung nötig war, um das Lächeln auf das Gesicht meiner Mutter zu zwingen.

Hätte der Mann die Gepäckstücke geöffnet, dann hätte er keine Marillen mehr gesucht. Es war alles in den Taschen enthalten, was zu dieser Zeit verboten war, unter anderem auch Mohn – und auf diesen stand die Todesstrafe.

Meine Mutter besaß Kraft und Selbstbeherrschung. Diese hielt bis zu unserer Wohnungstüre. Wenn sich diese hinter meiner Mutter schloss, brach sie jedes Mal zusammen.

Nachtquartier

Die Fahrten mit der Bahn wurden durch die Luftangriffe immer gefährlicher, und eine zeitgerechte Ankunft war daher eine Seltenheit. Wir waren wieder einmal unterwegs im Waldviertel und kamen erst am Abend in Krems an. Nun standen wir vor dem Bahnhof, und die Frage war: "Wo schlafen wir?" Gegenüber dem Bahnhof war eine Art Bahnhofsmission der Nazis. Meine Mutter nahm mich bei der Hand und zog mich in Richtung dieser Anlaufstelle. Es gelang ihr, für sich und mich eine Unterkunft für die Nacht zu bekommen. Während sie mit mehreren Frauen sitzend beim Tisch übernachtete, steckte ich in einem für mich etwas zu kurzen Gitterbett. So verging die Nacht. Am Morgen verließen wir die "gastliche" Stätte, und meine Mutter stellte in einiger Entfernung die Frage: "Was würden sie sagen, wenn sie wüssten, dass in ihrem 'arischen' Gitterbett ein Judenkind geschlafen hat?"

Gott sei Dank wussten sie es nicht!

Wie bringt man ein jüdisches Kind durch die Zugkontrolle?

Meine Mutter wollte mich einige Zeit aus der Gefahrenzone haben. Also beschloss sie, mich wieder einmal ins Waldviertel zu bringen. Nun durfte ich aber mit meiner mit einem "J" verzierten Kennkarte [6] Wien nicht verlassen. Mama steckte also ein Familienfoto ein, das mich gemeinsam mit meinen Eltern zeigte, und wir fuhren los. Prompt gerieten wir in eine dieser gefürchteten Kontrollen. Der Mann forderte meine Mutter zur Ausweisleistung auf, und sie reichte ihm die Kennkarte, täuschte aber gleichzeitig eine verzweifelte Suche nach meiner Kennkarte vor. Ganz verzagt meinte sie, sie hätte in der Aufregung wahrscheinlich meine Karte liegen lassen. Da schien sie ein Geistesblitz getroffen zu haben, denn sie zauberte das Familienbild hervor und hielt es dem Mann vors Gesicht: "Schauen Sie, das ist meine Familie. Würden Sie das als Beweis gelten lassen? – Bitte!!!" Und er ließ es gelten. Wie viel Kraft muss ihr die Liebe gegeben haben, dass sie solche Husarenstücke vollbringen konnte?

Weihnachtsaktion

Die Firma "Wiener Papier" handelte, wie schon der Name sagt, mit Papier. Und dieses war in Ballen verpackt, die durch Bretter und Metallbänder zusammengehalten wurden.

Nun kam während des Krieges wieder einmal die Weihnachtszeit, und es gab nicht mehr viel zu kaufen, womit man Kindern Freude bereiten konnte. Da kam mein Vater auf die (von vielen Bekannten mit Kopfschütteln bedachte) Idee, aus diesen Holzbrettern Kinderspielzeug herzustellen, um es den Kindern im Haus, deren Väter an der Front waren, zu schenken (auch wenn uns besagte Väter oft übel mitgespielt hatten). Mein Vater meinte nur: "Die Kinder können ja nichts dafür!" Wir schliffen also die Bretter glatt und schnitten Tiere zum Nachziehen und Teile von Puppenwiegen, die wir dann zusammensetzten, aus. Die fertigen Wiegen durfte dann ich mit meiner Stricknadel mit Brandmalerei verzieren. Meine Mutter, von Beruf Schneiderin, nähte Bettzeug, und aus Nüssen, die mit Stoff überzogen wurden, verfertigten wir kleine Puppenköpfe, die wir mit einem Körper ohne Arme und Beine verbanden. Als alles fertig war, brachte meine Mutter die Spielsachen zu den Müttern der Kinder. Mein Vater hielt sich im Hintergrund. Auf meine Frage, warum er das alles tue und das Böse, das man uns antat, mit Gutem vergalt, gab er mir einen Satz mit auf meinen Lebensweg, der für mich zum Evangelium wurde: "Wenn du alles im Leben vergisst, eines darfst du nie vergessen – dass du Mensch bist!"

Papas Taufe

Wie ich schon erwähnte, erhielt ich von den Herz-Jesu-Schwestern Unterricht und auch ein wenig Geborgenheit. Das führte dazu, dass ich am Heiligen Abend des Jahres 1942 getauft wurde. Die Schwestern bereiteten ein kleines Fest für mich, ich erhielt ein hellblaues Seidenkleid und hatte nach langer Zeit wieder das Gefühl, ein gleichwertiger Mensch zu sein. Auch meine Eltern nahmen an der Feier teil.

Mein Vater hatte schon seit einiger Zeit Kontakt zum Kloster, da er durch seine "Verbindungen" für die Schwestern Süßigkeiten, Puppen und Spielwaren beschaffen konnte. Dadurch kam er auch mit einem Priester, Monsignore Anton Kailer, zusammen. Dieser war ein älterer, sehr liebenswürdiger Herr, und die beiden so verschiedenen Männer verstanden sich auf Anhieb. Sie saßen oft stundenlang beisammen, unterhielten sich über Glaubensfragen und andere Dinge und kamen einander dadurch menschlich immer näher. Nun hatte mein Vater seiner verstorbenen Mutter versprochen, nie den jüdischen Glauben zu verlassen. Durch die Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft im Kloster fühlte sich mein Vater verpflichtet, zum katholischen Glauben überzutreten. Er erhielt, soweit das nötig schien, Unterricht, und zu Ostern 1943 wurde er getauft. Ich erinnere mich noch gut an die Erzählung meines Vaters über die Zeremonie: Sowohl dem Monsignore als auch meinem Vater wären die Schweißtropfen auf der Stirn gestanden. Meinem Vater, weil er das seiner Mutter gegebene Versprechen gebrochen hatte, und dem Monsignore, weil er bis zum letzten Augenblick befürchtete, mein Vater würde es sich anders überlegen.

Schanzenbauen

Ende des Jahres 1944 erhielt mein Vater die Einberufung zum Schanzenbauen [7]. Was immer das bedeutete, wussten wir nicht. Aber das es nichts Gutes war, war uns sofort klar. Also traf Mama Vorbereitungen, um Papa mit den wichtigsten Dingen zu versorgen.

Zu Beginn 1945 war es dann soweit. Papa wurde mit vielen anderen (Tschechen, Roma und Sinti, etc.) ins Burgenland transportiert. Die erste Station war Riedlingsdorf (woher meine Mutter das so rasch erfuhr, entzieht sich meiner Kenntnis). Eines aber war für meine Mutter sicher: "Wir fahren dem Papa nach!"

Leichter gesagt als getan. Zu dieser Zeit durfte man sich als Normalsterblicher nur 75 km von seinem Wohnort entfernen. Das galt natürlich 200 % für mich. Aber nicht für meine Mutter!!!

Der Bruder einer Schulfreundin meiner Mutter war Stationsvorstand in Seebenstein. Dieser wurde nun verständigt, wann und mit welchem Zug wir Seebenstein passieren würden (man konnte nur hoffen, dass es keine Verzögerung gab). Er bereitete eine Fahrkarte vor und reichte sie uns in den Zug. Also ging es weiter. Solche Transaktionen gingen zu dieser Zeit verhältnismäßig leicht, da das ganze System schon angeschlagen war.

Wir erreichten nachts die Haltestelle Riedlingsdorf. Als wir den Zug verließen, war es bitterkalt, stockdunkel und ringsum kein Haus zu sehen. Irgendein Schutzengel schickte uns in dieser verzweifelten Lage einen Streckenposten, der mit verdunkelter Laterne auf uns zukam. Ohne diesen Mann hätten wir den Ort nie erreicht, denn die Felder rund um die Haltestelle waren von Schanzengräben durchfurcht, und nur wer die Übergänge (Bretter) kannte, erreichte sein Ziel. Um 9 Uhr nachts brachte uns der Mann zur Schule, wo ein Teil der Schanzer und anscheinend auch die Leitung der Aktion untergebracht war. Nach lautem Klopfen öffnete uns der Oberlehrer. Zu unserem Schrecken erfuhren wir, dass die Schanzer am Vortag weggebracht wurden. Papa war zum Glück auch in der Schule untergebracht gewesen und schien durch sein Wesen auch den Oberlehrer für sich eingenommen zu haben. Dieser lud uns zum Übernachten ein (auf dem Strohlager der Schanzer), machte uns noch Tee mit Selbstgebranntem und versprach, uns am nächsten Tag zum Zug zu bringen. Wir mussten ihm vertrauen – was sonst?

Also ging es am nächsten Tag weiter Richtung Rechnitz. Bei der Station Burg-Eisenberg verließen wir den Zug. Es stand uns nun ein langer Fußweg über den Eisenberg bevor. Aber Mama war nicht aufzuhalten. Für sie galt noch immer: Bis ans Ende der Welt!

Wir fragten uns also durch und erreichten über die Ortschaft Höll das Dorf Edlitz. Auf unsere vorsichtige Frage nach Papa erhielten wir die Antwort, dass der lange Fritzl im Bürgermeisteramt untergebracht sei. Also, nichts wie hin!!! Es war Mittagszeit, und die Schanzer kamen zurück ins Quartier. In einem etwas größeren Zimmer waren zweistöckig Strohlager für die Nacht vorbereitet. In dem restlichen Raum stand ein Tisch. Alle bis auf Papa waren bereits da. Die Männer freuten sich für Papa und versteckten uns hinter der Türe. Diese ging endlich auf und Papa kam herein. Wir hätten ihn kaum wiedererkannt. Er hatte sich vorgenommen, sich bis zur Rückkehr nach Wien, auf die er hoffte, nicht zu rasieren. Außerdem war in der kurzen Zeit, in der wir ihn nicht gesehen hatten, sein Gesicht ganz schmal geworden – er hatte zu allem anderen auch noch Heimweh. Wir drei brachten kein Wort heraus, und die Tränen waren nicht zurückzuhalten, ich glaube auch bei den Kollegen nicht. Als die Schanzer wieder zur Arbeit mussten, machte sich Mama auf die Suche nach einem Quartier. Wir fanden eines im Nachbarort Winten. Der Kontakt zur Bevölkerung war sofort hergestellt. Man hatte zwar das Gerücht verbreitet, dass es sich bei den Schanzern um Mörder, Kinderschänder und andere Verbrecher handle, aber die Menschen waren bald dahintergekommen, wer die wahren Verbrecher waren.

Es gelang uns nur wenige Tage, unbemerkt zu bleiben. Dann wurden wir nach Wien zurückgebracht (nicht ohne vorher von den Ortsbewohnern mit einer Liste von Dingen, die sie für das bevorstehende Osterfest brauchten, versorgt worden zu sein). Denn eines stand für Mama fest: "Ich komme wieder!"

Wir kamen auch wieder und blieben, bis es besser schien, nach Wien zurückzukehren. Leider ohne Papa! Aber der kam bald nach.

Papas Rückkehr

Die war abenteuerlich und konnte nur deshalb so gelingen, weil bereits alles in Auflösung war. Laut Papas Bericht wären sie in der Nacht aufgewacht und hätten sich gewundert, wieso es so hell wäre. Als sie aus dem Fenster Richtung Steinamanger blickten, sahen sie die "Christbäume" (Leuchtraketen). Als sie vorsichtig nachsahen, merkten sie, dass von den so genannten Goldfasanen [8] keiner mehr anwesend war. Also machten sie sich auf den Marsch nach Wien. Papa erzählte, dass er (seine Tollkühnheit entsprang dem Mut der Verzweiflung) mit einem Zug, auf dem auch die SS mitfuhr, bis Wiener Neustadt gelangte. Er hätte behauptet, er wäre deshalb in Zivil, weil er einen geheimen Auftrag hätte. Die müssen ganz schön konfus gewesen sein, das zu glauben. Die Fahrt wurde durch einen Fliegerangriff auf Wiener Neustadt unterbrochen. Dann ging es weiter nach Wien, wo Papa am 3. April 1945 ankam. Die Freude war riesengroß, obwohl Mama mit Angina (sie hatte sich bei der Rückreise erkältet) im Bett lag.

Am Morgen des 4. April begann Papa die Dinge, die etwas Wert besaßen, in Schachteln und einen Wäschekorb zu verpacken. Ich glaube nicht an Hellseherei, aber Papas Vorahnungen waren manchmal beeindruckend.

Um 10 Uhr hieß es im Radio "Gebiet feindfrei". Um ca. 10.30 Uhr, meine Großmutter reinigte gerade den Fußboden, als Papa lauschte und dann rief: "Lauft schnell, ich glaube, da fallen Bomben!" Ich sauste aus der Küche, Mama aus dem Bett, Oma glaubte noch immer den Boden reinigen zu müssen und stand daher im Weg. Aber dann lief auch sie. Leider war es bereits zu spät. Oma und ich konnten uns in der Biegung der Wendeltreppe in Sicherheit bringen. Aber Papa und Mama erwischten die Splitter einer Splitterbombe (deren Gehäuse später im Hof des Hauses gefunden wurde). Mama hatte einen Splitter im Handwurzelknochen, der ihr beinahe die Hand gekostet hätte. Papa durchschlugen die Splitter beide Oberschenkel und rissen riesige Fleischwunden. Nur dem Geschick unserer Haussanitäterin verdankte es Papa, dass er nicht verblutete. Man transportierte ihn ab, und wir wussten bis nach dem Einmarsch der russischen Truppen nicht, was aus ihm geworden war. Ich habe nie erfahren, wie ein Kollege aus dem "Judenbetrieb" seinen Aufenthaltsort in Erfahrung hatte bringen können und woher er überhaupt wusste, dass Papa verwundet worden war. Wir erfuhren jedenfalls durch ihn, dass Papa im Keller des alten Allgemeinen Krankenhauses läge. Dort fanden wir ihn (Prof. Schönbauer [9] hatte seine Wunden ohne Narkose genäht), als ich mit Mama zum Verbandwechsel fuhr. Man hatte ihr den Splitter mittels Zahnzange entfernt, nachdem sie eine Amputation verweigert hatte.

Dieser Artikel wurde auch veröffentlicht in: Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus, Band 2. Wien, 2012, Seite 26-41.

Das ausführliche lebensgeschichtliche Interview mit Frau Nemschitz finden sie auf W24: "1938 habe ich aufgehört Kind zu sein".

[1] Die Firma Herlango, gegründet 1917 in Wien, produzierte photographische Apparate, Platten und Papiere.
[2] Auf der Verlängerung des Schwedenplatzes, dem Morzinplatz, befand sich im damaligen Hotel Metropol der Sitz der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Wien.
[3] Vom ehemaligen Aspangbahnhof wurden in 47 Transporten rund 50.000 österreichische Jüdinnen und Juden in die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.
[4] Ab September 1941 mussten Jüdinnen und Juden einen "Judenstern" als Zeichen der Ausgrenzung auf ihrer Kleidung tragen.
[5] Ab Jänner 1939 mussten Jüdinnen den zusätzlichen Vornamen Sara, Juden den Vornamen Israel annehmen.
[6] Ab Jänner 1939 mussten jüdische Bürgerinnen und Bürger spezielle Kennkarten bei sich tragen.
[7] Um die südöstliche Grenze des Deutschen Reiches gegen die heranrückende Rote Armee zu schützen, wurde gegen Ende des Zweiten Weltkrieges begonnen, einen "Südostwall" anzulegen. Für die Schanzenarbeiten wurden neben der ansässigen Zivilbevölkerung v.a. jüdische Zwangsarbeiter aus Ungarn eingesetzt.
[8] Während der NS-Zeit der spöttische Begriff für Funktionäre und Amtsträger der NSDAP, betreffend deren Uniformen und Ordensschmuck.
[9] Leopold Schönbauer (1888-1963), österreichischer Chirurg und Krebsforscher, ab 1945 Direktor des Allgemeinen Krankenhauses in Wien.