Ingeborg Dürnecker

"Verdeckte Spuren" – Mein Leidensweg vom Spiegelgrund

Ingeborg Dürnecker wurde am 5. Oktober 1934 in Wien geboren. Nachdem sie mit drei Monaten von ihren leiblichen Eltern ausgesetzt worden war, kam sie zu Pflegeeltern. Damit begann ihr Leidensweg. Im Alter von sieben Jahren wurde sie aufgrund von Misshandlungen der Kinderübernahmestelle der Stadt Wien in der Lustkandlgasse übergeben, kam anschließend für 18 Monate in die Kinderanstalt "Am Spiegelgrund" und danach für fast fünf Jahre in das Kinderheim Erlanghof.

Mit drei Monaten ausgesetzt im Jänner 1935, bei Minusgraden. So hatte es begonnen. Sieben Jahre alt: Misshandlungen und Verwahrlosung. Somit war ich gut geeignet als Versuchsobjekt. Sechs Wochen Kinderübernahmestelle [1], achtzehn Monate Spiegelgrund [2] und knapp fünf Jahre Kinderheim Erlanghof. Alles so genannte Heime.

Für mich waren der Spiegelgrund und das Kinderheim Erlanghof so genannte Kinder-KZ: Kälte, Hunger, Schläge, Unmengen von Tabletten und Spritzen. Sadistische Gräueltaten waren an der Tagesordnung. Wir wurden zu Bettnässern. Man hing uns das Leintuch über den Kopf, und wir mussten auf Steinböden stehen, bis es trocken war. Dabei sind meine Zehen erfroren.

Die so genannte Gesichtswäsche: Wir mussten uns vor die Klomuschel knien, den Kopf in die Muschel, runter mit der Spülung. Ich bekam Spei-Injektionen durch Dr. Gross [3] – ich glaubte, ich müsste sterben.

Ich hatte einmal gewagt, aus einem Vogelhäuschen Brotbröckerl herauszunehmen. Zur Strafe hatte man mich angebunden und die Fingernägel bis ins Fleisch geschnitten. Ein anderes Mal die Haare zur Glatze geschnitten. Oder mit eiskaltem Wasser an die Wand gespritzt, bis wir zusammenbrachen. Und so gäbe es noch viel zu erzählen.

Mir hat man keine Häuser, Schmuck oder dergleichen genommen. Sondern 62 Jahre meines Lebens. Psychisch sowie nervlich mein ganzes Leben zerstört.

Sie fragen, was so ein Verlust wert ist, wenn man nie Kind sein durfte und geschunden wurde? Keine Ahnung, was ein Menschenleben wert ist.

Zum Abschluss möchte ich noch sagen: Es ist so traurig, dass es zum Großteil unsere eigenen Landsleute waren.

[1] Die Kinderübernahmestelle diente bereits vor 1938 als Aufnahme- und Verteilungsstelle für Kinder und Jugendliche, die in öffentliche Fürsorge genommen wurden. Während der NS-Zeit war die Kinderübernahmestelle für die Überstellung vieler behinderter Kinder an Tötungsanstalten wie "Am Spiegelgrund" verantwortlich.
[2] In der berüchtigten Kinderanstalt "Am Spiegelgrund", errichtet im Juli 1940 auf dem Gelände der "Heil und Pflegeanstalt Am Steinhof" in Wien, wurden bis 1945 im Zuge der nationalsozialistischen "Kindereuthanasie" fast 800 kranke oder behinderte Kinder ermordet.
[3] Dr. Heinrich Gross, Arzt in der Kinderanstalt "Am Spiegelgrund", war an der Ermordung von geistig oder körperlich behinderten Kindern aktiv beteiligt. Nach 1945 nie rechtskräftig verurteilt, konnte er als Gerichtsgutachter in Österreich Karriere machen. Ein 1997 eingeleitetes Verfahren wegen des Verdachts auf Ermordung von neun Kindern wurde nach dem Tod von Heinrich Gross im Jahr 2005 eingestellt.