Paul Porges

1938 und die folgenden Jahre aus der Sicht eines Sechsjährigen

Paul Porges wurde am 14. Mai 1932 in Spittal/Drau geboren. Sein Vater war Jude.

Mein Vater hatte 1938 als praktischer Arzt eine sehr gut gehende Praxis, die er aufgeben musste, weil es Juden verboten war, "Arier" zu behandeln. Er hatte 1929/1930 ein Einfamilienhaus mit Ordination in Spittal gebaut. Ab 1938 war der Besitz eines Hauses für ihn verboten. Das Haus wurde auf uns drei Kinder überschrieben. "Dankbare Patienten" haben später eine Gedenktafel am Haus angebracht. Mein Vater ging nach Wien und war hier als "Krankenbehandler für Juden" tätig. Den Doktortitel durfte er nicht mehr führen, sein Name wurde auf Walter Israel Porges [1] geändert. Er hatte erst eine Ordination am Schlickplatz, später in der Schiffamtsgasse. Er konnte für sich selbst sorgen und kam auch immer wieder zu seiner Familie auf Besuch. Zuletzt habe ich ihn im Sommer 1943 gesehen.

1938 wurde das Haus bis auf zwei Räume plus Küche an den Reichsnährstand (die NS-Version der Landwirtschaftskammer) vermietet. Für meine Mutter und die drei unversorgten Kinder waren die Mieteinnahmen vom Haus das einzige Einkommen während der NS-Zeit, d.h. wir waren extrem arm. Hatte die Familie vor 1938 ein, zeitweise auch zwei Dienstmädchen und alle drei bis vier Wochen eine Wäscherin (das war damals in "bürgerlichen" Familien so üblich und kein besonderer Luxus), so durfte meine Mutter jetzt den Koksofen, der einen Großteil des Hauses zentral beheizte, morgens ausräumen und neu füllen und tagsüber warten. Für diese Arbeit stand ihr das Recht zu, einen Heizkörper in unseren beiden Räumen mitlaufen zu lassen.

Da wir Kinder zu Ausbildungszwecken nach der Reihe Spittal verlassen mussten, war die finanzielle Situation auch weiterhin sehr schwierig. Als so genannte Mischlinge ersten Grades waren wir von jeder höheren Schulbildung ausgeschlossen gewesen. Ich selbst war während der gesamten NS-Zeit – sieben Jahre lang – in die Volksschule gegangen.

Mein Vater wurde am 20. September 1943 verhaftet und auf die Roßauer Lände [2] gebracht. Am 22. Mai 1944 wurde er nach Auschwitz überstellt. Sein letzter Brief ist vom 5. November 1944.

"Liebste Erna!

Heute ist nun B.s Geburtstag [3], hoffentlich sitzt Ihr alle jetzt gesund beim Mittagessen! Vor 19 Jahren fiel Schnee, hier ists heute sonnig und kalt. Ist B. noch reizbar und verschlossen oder spricht sie sich mit Dir aus über alles was sie bedrückt? Seit 1.11. sind die neuen Mieter im Haus, wie lassen sie sich an? Hast Du die Küche im kleinen Gastzimmer oder im Gartenzimmer?

Dank für Brief, kam am 24., und für die vorzüglich zusammengestellten Packln! Nr 32 kam am 25.10., 29 am 28., 31 am 30.10. Alle vollständig. Lernt Paul das, was er angefangen hat, nicht mehr weiter? Wo habt Ihr so viele Kaninchen untergebracht? Grüße die Kinder, B. nochmals das Beste zum 5.11., Dir herzl. Gruß und Kuß! Walter"

Walter Porges wurde in Auschwitz ermordet.

[1] Ab Jänner 1939 mussten Jüdinnen den zusätzlichen Vornamen Sara, Juden den Vornamen Israel annehmen.
[2] Auf der Roßauer Lände im 9. Wiener Gemeindebezirk befand sich ein Polizeigefangenenhaus.
[3] Die Schwester von Herrn Porges feierte am 5. November 1944 ihren 19. Geburtstag. Auf ihren Wunsch hin wird ihr Name anonymisiert.