Peter Feldmann

Das Wunder des Überlebens

Im März 1938 kam der "Anschluss". Drei Tage später wurde mein Vater verhaftet und kam in Schutzhaft in verschiedene Wiener Gefängnisse, darunter auch das Wiener Landesgericht, wo er bis dahin als beisitzender Richter tätig gewesen war.

Rechtdenkend und ahnungslos, wie nur Juristen sein können, machte mein Vater aus seiner Haft heraus Gesuche und Eingaben, in denen er ersuchte, man möge ihm mitteilen, was gegen ihn vorliege, um sich entsprechend verteidigen und den offensichtlichen Justizirrtum aufklären zu können. Natürlich hat er niemals eine Antwort bekommen. Noch ein Glück, wenn seine Gesuche nur im Papierkorb gelandet sind.

Mein Vater war damals 54 Jahre alt und hatte gerade sein 30. Dienstjubiläum gefeiert. Plötzlich (weil Jude) fristlos und ohne Pensionierung entlassen zu werden war ein Alptraum, aus dem er zu erwachen hoffte. Wer konnte damals, im Frühling 1938, ernstlich glauben, dass das neue Regime anstrebte, die jüdischen Mitbürger zunächst ihres Hab und Gutes zu berauben, um sie dann eventuell großzügig mit zehn Reichsmark pro Kopf in der Tasche ins Ausland zu entlassen, oder aber, falls jene entweder nicht flüchten wollten oder konnten, sie in Todeslager abzutransportieren, um sie dort wie Ungeziefer zu vergasen.

Monate vergingen, mein Vater blieb verhaftet. Es wurde Sommer.

In den ersten Augusttagen wanderte meine Mutter eines Tages verzweifelt und tief in Gedanken versunken durch die Wiener Innenstadt und kam auf dem Schwedenplatz am Gestapogebäude [1] vorbei. In diesem Augenblick kam gerade ein hoher SS-Offizier aus dem Gebäude heraus, sah sie und rief hocherfreut: "Hallo, hallo, Frau Doktor, Frau Doktor!", und entpuppte sich als alter Bekannter, der natürlich bis dahin keine blasse Ahnung gehabt hatte, dass wir Juden waren.

Meine Mutter brach in Tränen aus und erzählte ihm, was los war. Und der Mann, der schließlich mit uns bislang befreundet gewesen war, versprach zu helfen. Und half. Was tat er? Es gab angeblich zwei Aktenstapel im Gestapogebäude. Ein umfangreicher, großer, mit den Akten derer, die fürs Konzentrationslager bestimmt waren, und ein kleiner, zweiter Stapel für diejenigen, die aus der Haft zu entlassen waren. Er nahm den Akt "Karl Feldmann" aus dem großen Stapel heraus und legte ihn obenauf auf den kleinen Stapel. Mein Vater kehrte am nächsten Tag aus der Haft zurück. Musste sich jedoch ab dann täglich beim Polizeikommissariat Hernals, wo wir wohnten, melden.

Im Spätsommer 1938 wurde dann unsere schöne Wohnung in Dornbach "arisiert". Wir mussten sie an eine "deutsche" Familie abtreten und – wir betrieben ja nun doch unsere Ausreise aus Österreich – provisorisch in eine jüdische Pension in der Alserstraße übersiedeln.

Am Tag der "Kristallnacht" [2] waren wir sehr in Sorge, dass mein Vater nicht wieder vom Polizeikommissariat nach Hause kommen, sondern dass man ihn wieder verhaften würde. Als er sich an diesem Tag bei der Polizei meldete, fragte ihn der Polizeichef, der ihn inzwischen ja gut kennen gelernt hatte: "Haben Sie Ihre Ausreise schon organisiert?" "Ich bekomme das Visum in diesen Tagen", erwiderte mein Vater. "Sehen Sie zu, dass Sie das Land schnell verlassen, ansonsten werden Sie wieder festgenommen."

Wir schickten sofort ein SOS-Telegramm an unsere Verwandten in Holland, wo unser Antrag auf Einreise zwar lief, aber nicht vorwärts kam. Und die großartige 81-jährige Laura Henschel, Cousine meiner Urgroßmutter, erwirkte eine persönliche Audienz beim damaligen holländischen Premierminister Colijn [3], der angeblich von ihr so beeindruckt war, dass er ihr zu wählen gab: Entweder die holländische Staatsbürgerschaft für sie oder die augenblickliche Ausstellung der Einreisebewilligung für Familie Feldmann, Vater, Mutter und Sohn. Und sie entschied sich für Letzteres und hat uns somit das Leben gerettet.

Die "Kristallnacht" war am 9. November. Wir verließen Wien am 3. Dezember 1938 und blieben dann neun Monate in Haag. Mit zehn Reichsmark pro Kopf und unserem Handgepäck nach Holland gekommen, waren wir nun Bettler und von der Gnade und Barmherzigkeit anderer abhängig. Wir mussten uns umstellen auf unser neues Leben. Schwer für meine Eltern, speziell für meinen nun 55-jährigen Vater, dem man seine Existenz, die er für sich und uns im Laufe eines musterhaften, pflichtbewussten und aufopferungsvollen Lebens aufgebaut hatte, geraubt hatte, dem man seine Heimat genommen hatte und für den es nun galt, in der Fremde, wo man andere Sprachen sprach, von nichts neu anzufangen.

Auch ich war von einem Tag zum anderen zum Ausgestoßenen geworden. Aus dem Piaristengymnasium war ich hinausgeschmissen worden und hatte danach "Judenschulen" zu besuchen gehabt. Meine nicht-jüdischen Freunde durften nicht mehr mit mir verkehren. Es war keine leichte Zeit, und wer Ähnliches erlebt hat, hat, gleich mir, seinen Schaden davongetragen. Dieser bestand bei mir hauptsächlich in einer allgemeinen Verunsicherung und der Überzeugung meiner Unfähigkeit, allem Schrecklichen, das in jedem Moment passieren konnte, Herr zu werden. Ich wurde anpassungsfähig, ging in Holland zur Schule, lernte mühelos binnen kurzem die holländische Sprache, aber ich hatte Angst vor dem, was uns bevorstand. Und mit Recht. Denn es stand uns einiges bevor.

Hätten wir über Mittel verfügt oder hätte mein Vater die Arbeitsbewilligung in Holland bekommen, die er anstrebte, wir wären in Holland geblieben, das Schicksal hätte uns ereilt und wir hätten den Krieg nicht überlebt. Der Umstand, dass mein Vater keine Arbeitsbewilligung in Holland bekam, wir nur "Durchreisevisa" erhalten hatten und uns also um die Einreise in ein anderes Land zu kümmern hatten, rettete uns vor diesem Schicksal. Ein nach Santiago de Chile ausgewanderter Bekannter war es, der uns schließlich im Jahre 1939 das Einreisevisum nach Chile verschaffte.

Wir bekamen dieses Einreisevisum im Frühsommer des Jahres 1939, und es gelang uns auch, Schiffspassagen zu buchen. Wie unsere Schiffspassagen finanziert wurden, weiß ich nicht. Jedenfalls hatten wir unsere drei Passagen in der Tasche, dazu drei von den Nazibehörden in Wien ausgestellte Judenpässe, worin man die Namen Israel und Sara unseren Namen zugefügt hatte und uns als "staatenlos" auswies. Es waren immerhin Dokumente, die uns identifizierten.

Unsere Abreise von Holland per Zug zunächst nach Paris erfolgte am Abend des 25. August 1939. An diesem unglückseligen Tag erfolgte der Pakt zwischen Hitler und Stalin [4], auf den prompt der Einmarsch deutscher Truppen in Polen folgte. Holland wurde an diesem Tag zum "Wespennest", uns jedoch brachte der Nachtzug über Belgien nach Paris. Am 28. August 1939 brachte uns der Zug nach La Rochelle/Pallice [5]. Dort erfuhren wir, dass unser Schiff zu Kriegszwecken requiriert worden war und nicht abgehen würde. Für die nächsten Tage wurden wir in diversen Herbergen notdürftigst untergebracht. Wir warteten auf Nachrichten und kämpften in unseren kümmerlichen Herbergen mit Scharen von Wanzen.

Der Krieg brach aus, und als definitiv kein anderes Schiff zur Verfügung gestellt wurde, blieb den französischen Behörden nichts anderes übrig, als uns alle in einem Lager im Ort Montguyon [6] in Südfrankreich unterzubringen. Man schlief auf Stroh, Koffer begrenzten den "Lebensraum" jeder Familie, man ging auf Latrinen und man nährte sich von Bohnen, tagaus, tagein. Anderes gab es nicht. Immerhin hungerten wir nicht. Nach wenigen Tagen wurde mein Vater mit sämtlichen Männern über 15 Jahren in ein anderes Lager in Libourne [7] abtransportiert, was zur allgemeinen Verunsicherung noch mehr beisteuerte. Unseres war nun ein Frauen- und Kinderlager.

Genau drei Monate verbrachten wir im Lager von Montguyon, aus dem wir uns nicht entfernen durften. Schließlich rettete uns der Umstand, dass wir gültige Passagen nach Übersee besaßen und uns die Franzosen, je eher, je lieber, los sein wollten. Internationale jüdische Organisationen sowie der französische Staat intervenierten für uns und erwirkten schließlich, dass sich die Schiffsgesellschaft bereit erklärte, ein letztes Schiff zur Verfügung zu stellen.

Wir alle, die wir Schiffspassagen besaßen, wurden Mitte Dezember 1939 nach Le Havre transportiert, wo dann zu unserer allgemeinen Erleichterung alle Männer aus Libourne zu uns stießen, und dann wurden wir nach Liverpool transportiert, wo wir endlich am 19. Dezember 1939 das Ersatzschiff bestiegen, das uns nach Chile bringen sollte, wo ich auch heute noch lebe.

Ich kann meinen Bericht nicht abschließen, ohne zu verzeichnen, dass nicht weniger als 36 Mitglieder unserer Familie vom Nazi-Regime verschleppt und in diversen Konzentrationslagern umgekommen sind. Es handelt sich dabei hauptsächlich um den gesamten tschechischen Teil unserer Familie, aber auch ein Bruder meines Vaters, Rudolf Feldmann, der nach Frankreich geflüchtet war, wurde beim Einmarsch deutscher Truppen in Ostfrankreich in einem Flüchtlingslager geschnappt, wurde angeblich nach Polen verschleppt und man hat nie wieder von ihm gehört.

Meine Großmutter ist kurz vor dem "Anschluss" gestorben, ihr sind die Schrecknisse dieser Zeit erspart geblieben. Mein Großvater ist Anfang 1940 in Wien aus Gram gestorben. Er war rüstig bis an sein Ende. Aber er hatte nichts mehr, wofür er noch leben sollte. Mein Onkel Fritz Wölfler wurde mehrere Wochen nach dem "Anschluss" verhaftet und kam zunächst ins Konzentrationslager nach Dachau, später nach Buchenwald. Seine Rettung verdankt er, ähnlich wie wir, glücklichen Umständen und Beziehungen. Nach dem Krieg und als Österreich wieder bestand, ist speziell mein Onkel oft und oft nach Wien zurückgekommen. Das tue ich auch von Chile aus. Und unser erster Besuch galt und gilt immer noch dem Zentralfriedhof und dem Grab meiner Großeltern, auf dem zu lesen ist: "Ihr lebt im Herzen der fernen Kinder."

[1] Auf der Verlängerung des Schwedenplatzes, dem Morzinplatz, befand sich im damaligen Hotel Metropol der Sitz der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Wien.
[2] Als "Kristallnacht" oder "Reichskristallnacht" wurde der Pogrom gegen Jüdinnen und Juden auf deutschem Reichsgebiet in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 bezeichnet. Der Name leitet sich von den zahlreichen Fensterscheiben, die im Zuge dieser Nacht zerstört wurden, ab. Neben der Plünderung, Zerstörung und Beschlagnahmung von jüdischen Geschäften, Wohnungen, Synagogen und Bethäusern wurden tausende Jüdinnen und Juden verhaftet und zum Teil in Konzentrationslager deportiert, wo viele von ihnen ermordet wurden.
[3] Hendrik Colijn/Dr. Hendrikus Colijn (1869–1944). Von 1925 bis 1926 und von 1933 bis 1939 in fünf Kabinetten niederländischer Ministerpräsident. 1941 von den Nationalsozialisten festgenommen. 1942 aus der Haft entlassen, dann unter Hausarrest in Thüringen, wo er 1944 verstarb.
[4] Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt wurde vom deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop und dem sowjetischen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Wjatscheslaw Molotow am 24. August 1939 mit Datum 23. August 1939 in Moskau unterzeichnet.
[5] La Rochelle liegt zwischen Nantes und Bordeaux an der Atlantikküste Frankreichs. La Rochelle hat vier Häfen, darunter auch La Palice. Die Stadt war zwischen 1940 und 1945 Stützpunkt der deutschen U-Boot-Flotte.
[6] Mit Kriegsausbruch hatte Frankreich alle deutschen Staatsangehörigen auf französischen Staatsgebiet zu "feindlichen Subjekten" ("objets ennemis") erklärt und in Internierungslagern untergebracht. In Montguyon befand sich ein solches Internierungslager für deutsche Staatsangehörige.
[7] Libourne ist eine Stadt in der französischen Region Aquitanien; auch hier befand sich ein Internierungslager.