Erinnerungen an Karl Wahle

Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Schiedsinstanz für Naturalrestitution und der Präsentation von Band 4 ihrer Entscheidungen fand am 11. Oktober 2011 eine Veranstaltung mit dem Zeitzeugen Francis Wahle statt. Nachfolgend ein zusammenfassender Bericht der Redebeiträge.

Hannah Lessing

Hannah Lessing, Generalsekretärin des Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus, erinnerte in ihrer Eröffnungsansprache daran, dass 2011 zwei Jahrestage begangen werden. Zum einen wurde im Jänner 2001 das Washingtoner Abkommen zwischen der Republik Österreich und den USA vereinbart, "das den Grundstein für einige wesentliche Schritte in der späten Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Österreich" gelegt habe und die Einrichtung des Allgemeinen Entschädigungsfonds, die durch den Nationalfonds umgesetzte Mietrechtsentschädigung sowie die anlaufende Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich vorsah. Zum anderen konstituierte sich am 5. Oktober 2001 auf Basis des Washingtoner Abkommens die beim Allgemeinen Entschädigungsfonds eingerichtete Schiedsinstanz für Naturalrestitution, die prüft, ob in der NS-Zeit entzogene und heute im Eigentum der öffentlichen Hand stehende Immobilien zurückzugeben sind. Neben den drei Mitgliedern der Schiedsinstanz, Erich Kussbach, August Reinisch und Josef Aicher, konnte Lessing auch die Mitglieder des Antragskomitees des Entschädigungsfonds, Kurt Hofmann, Jon Greenwald und Sir Franklin Berman zu der Veranstaltung begrüßen.

Lessing betonte in Ihrer Ansprache dass der Kontakt zu dem "besonderen Gast" des Abends, dem Zeitzeugen Francis (Franz) Wahle, bereits seit Beginn des Nationalfonds 1995 bestehe. Francis Wahles Schicksal könne stellvertretend für das Schicksal vieler Kinder stehen, die damals von ihren Eltern fort geschickt werden mussten, um ihr Leben zu retten. "Sie erlebten den Kindertransport mit allen Konsequenzen – dem Heimweh, der Ungewissheit in einer fremden Welt, der Sorge um das Schicksal der Eltern und den Schwierigkeiten der Wiedervereinigung mit ihnen." Die Veranstaltung stelle insofern etwas Besonderes dar: "Sie will den Blick öffnen für die Menschen, die hinter den juristischen Entscheidungen der Schiedsinstanz stehen", so Lessing.

Im Hinblick auf Karl Wahles Leben und Wirken, das im Mittelpunkt der Veranstaltung stand, wies Lessing darauf hin, dass dieser im Nachkriegsösterreich "der österreichischen Bereitschaft zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit anfangs sicherlich zu Recht skeptisch gegenüber gestanden" sei und dennoch die schwere Aufgabe eines Richters bei der Rückstellungskommission übernommen habe. "Wenn wir uns auch heute stets bewusst sind", so Lessing, "dass nichts ‚wieder gut gemacht' werden kann, so hoffe ich doch, dass Karl Wahle die Arbeit der Schiedsinstanz mit ihrem Beitrag zum Versuch einer späten Wiedergutmachung mit Wohlwollen betrachtet hätte."

Heinz Mayer

Der Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Univ.-Prof. DDr. Heinz Mayer, betonte als Co-Einladender der Veranstaltung die politische Dimension des Rechts, das entgegen der Auffassung mancher Juristen nicht allein dazu da sei, der Wirtschaft zu dienen, sondern die Schwachen und Unterdrückten zu unterstützen. Diese Auffassung finde sich nicht nur bei Karl Wahle wieder, sondern zeige sich auch bei den Entscheidungen der Schiedsinstanz für Naturalrestitution, die höchsten juristischen Standards entsprechen würden.

Josef Aicher

Der Vorsitzende der Schiedsinstanz, Josef Aicher, brachte in seinen einführenden Worten zum Ausdruck, dass der Anlass für die Veranstaltung – das zehnjährige Bestehen der Schiedsinstanz – "kein Grund zum Feiern" sei: "Auch wir hätten uns im Interesse der Antragsteller gewünscht, die Anträge auf Rückstellung von Liegenschaften, die während der Gewaltherrschaft des NS-Regimes den Verfolgten entzogen wurden und trotz der Rückstellungsgesetzgebung nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht zurückgestellt wurden, rascher einer Entscheidung zuführen zu können", so Aicher. Nach derzeitigem Stand werde die Schiedsinstanz noch bis Ende 2013, Anfang 2014, für die Antragsbearbeitung benötigen. Die Vielzahl der Anträge, aber auch "unsere feste Überzeugung", so Aicher, "dass wir den Antragstellern nicht nur eine juristisch korrekte, sondern auch eine auf profunder historischer Recherche basierende Entscheidung schulden", lasse die Tätigkeit der Schiedsinstanz erst nach 10 Jahren zu einem absehbaren Ende kommen.

Als Zwischenbilanz der Tätigkeit der Schiedsinstanz erläuterte Aicher, dass von den 2.229 insgesamt eingelangten Anträgen 1.421 in die Kategorie der so genannten "Formalanträge" falle, von denen 721 bereits entschieden worden und 700 noch in Bearbeitung seien, wovon wiederum für 672 Anträge Verbesserungsaufträge ergangen seien. 525 Anträge seien als materielle Anträge eingestuft, von denen noch 122 in Bearbeitung stünden. Von den entschiedenen Anträgen würden 313 auf Ablehnungen und Zurückweisungen entfallen. 90 Anträge hätten mit einer Empfehlung abgeschlossen werden können. Das Flächenausmaß der zur Rückstellung empfohlenen Liegenschaften liege bei rund 833.000 m². Grob geschätzt belaufe sich der Gesamtwert dieser Immobilien auf rund 42 Millionen Euro, wovon gut 7,1 Millionen anstelle einer In-natura-Restitution als vergleichbarer Vermögenswert ausbezahlt worden sei.

Abschließend würdigte Aicher Karl Wahle als "bedeutenden Richter und Rechtswissenschafter" und zitierte dazu Karl Hannak, der in einem Nachruf in den Juristischen Blättern 1970 über Wahle geschrieben hatte: "Sein Leben war Arbeit und Pflichterfüllung." Es sei eine "besonders glückliche Fügung", so Aicher, dass Karl Wahles Sohn Francis, der heute als katholischer Priester in London lebt, der Einladung der Schiedsinstanz gefolgt sei und das Publikum an seinen Erinnerungen an seinen Vater teilhaben lasse.

Francis Wahle

Francis Wahle bedankte sich seinerseits für die Ehre, die seinem Vater 40 Jahre nach seinem Tod verliehen werde, zumal sich dieser "nie um Popularität gekümmert" und "immer sehr geradlinig" gewesen sei. Francis Wahle begann seine Erinnerungen mit einem kurzen Rückblick auf seine Vorfahren. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter kamen aus einer jüdischen Familie, waren jedoch "stark assimiliert". So ließ sich sein 1887 geborener Vater 1911 zunächst altkatholisch taufen und trat einige Zeit später zur römisch-katholischen Kirche über. Er studierte zunächst Geschichte und wechselte schließlich zu den Rechtswissenschaften. Den Ersten Weltkrieg erlebte Karl Wahle als Jurist an der Front, wo er einen Nervenzusammenbruch erlitt. Da sein Interesse vor allem dem Zivilrecht galt, wurde er nach Kriegsende Richter am Handelsgericht.

Als im März 1938 Hitlers Truppen in Österreich einmarschierten, wurde Karl Wahle als Oberlandesgerichtsrat und Staatsbeamter sofort zwangspensioniert, während seine Mutter als Chefmathematikerin beim "Anker" und somit Privatangestellte noch eine Weile ihren Beruf ausüben konnte. Als die Freiheiten von Juden, "inklusive Christen jüdischer Abstammung", so Francis Wahle, immer stärker eingeschränkt wurden, wollte seine Mutter nach Südamerika auswandern, doch sein Vater war aufgrund seines "strengen Pflichtgefühls" dagegen: "Ein Staatsbeamter verlässt sein Land nicht.", erinnert sich Francis Wahle an die Worte seines Vaters. Überdies konnte er es als Mann nicht über sich bringen, von seiner Frau erhalten zu werden. Für die Kinder, die ursprünglich zu Verwandten nach Italien gebracht hätten werden sollen, wurde nach dem Novemberpogrom 1938 eine Ausreisemöglichkeit gesucht – so kamen Francis Wahle und seine jüngere Schwester Hedwig 1939 mit einem Kindertransport nach England.

Die Eltern von Francis Wahle konnten die ersten zwei Jahre noch in der eigenen Wohnung in der Gonzagagasse Ecke Rudolfsplatz im Ersten Wiener Gemeindebezirk bleiben,  mussten ab Dezember 1941 ihre Wohnung aber mit anderen teilen. Einer der neuen Untermieter drohte Karl und Hedwig Wahle mit der Denunziation, "da wir grundsätzlich uns über alle Vorschriften hinwegsetzten", zitierte Francis Wahle aus einem Brief seines Vaters. "Ein Richter der sich über alle Vorschriften hinwegsetzt! Als es meinem Vater klar wurde, dass er ein Ausgesetzter war, fühlte er sich vom Gesetz befreit. Er durfte mit gutem Gewissen jede Regel brechen", so Francis Wahle.

Mit Beginn der Deportationen der Wiener Juden in die besetzten Ostgebiete wurde es für den ehemaligen Oberlandesgerichtsrat und seine Frau in Wien immer bedrohlicher, da man nicht wissen konnte, "in welchen Stadtviertel die Aushebungen an irgendeinem bestimmten Tag zu erwarten waren", so Francis Wahle. Als im Mai 1942 tatsächlich die Gestapo in das Haus kam, um die Eltern zu deportieren, konnten die Wahles "unbehelligt durch den Kordon durchkommen, haben aber buchstäblich nur ihr Leben gerettet." Für die nächsten drei Jahre waren sie "Unpersonen", so Wahle: "Ohne Ausweis, ohne fixe Wohnstätte, ohne Arbeit, ohne Lebensmittel, aber auf der Suchliste der Gestapo. Allein hätte mein Vater diese Zeit nie überstanden. Er wusste doch nicht einmal, wie man Schuhe putzt! Er verdankte sein Leben der Schlagfertigkeit meiner Mutter." Die Notwendigkeit, die bisherige Identität abzulegen und in den Untergrund zu gehen, hatte aber auch zur Folge, dass der Kontakt mit den Kindern, der bisher über das Rote Kreuz noch möglich gewesen war, abriss.

Am sichersten waren die Eltern von Francis Wahle bei fremden Leuten. Um nicht polizeilich angemeldet zu werden, aber dennoch nicht verdächtig zu erscheinen, wurde den Quartiergebern folgende Geschichte erzählt, so Karl Wahle in einem Brief nach Kriegsende:

"Ich stellte mich als Kaufmann aus der Provinz vor, der für einige Tage in der Woche nach Wien zu kommen pflege und seine Geliebte mitbringe. Da meine Frau sehr eifersüchtig sei und mir immer nachspüre, so dürfe ich polizeilich nicht angemeldet werden. Mit dieser Geschichte mietete ich zwei Absteigequartiere in zwei verschiedenen Stadtbezirken. Zweimal in der Woche (am Montag und am Donnerstag) wurde umgesiedelt. Wenn ich der einen Quartierfrau erzählte, dass ich nach Hause fahre, so kam ich für die andere an. Nach drei Tagen wiederholte sich das Spiel mit umgekehrten Vorzeichen."

Bereits am 13. April 1945, während in manchen Stadtteilen Wiens noch gekämpft wurde, meldete sich Karl Wahle zum Dienst im Justizpalast an. Die ehemaligen jüdischen Richter waren "entweder emigriert oder vergast worden", so Wahle. Von den Überlebenden kamen so gut wie keine zurück nach Österreich, und von denen, die 1945 noch da waren, waren viele ehemalige Parteigenossen. "Man hat meinen Vater öfters gefragt, wieso er mit solchen Leuten zusammenarbeiten konnte", so Francis Wahle. Wenn sie nur "Mitläufer" gewesen seien, habe sein Vater kein Problem gehabt. Er war der Meinung: "Der Durchschnittsmensch ist kein Held." Er selbst sei ein starker Verfechter der Unabhängigkeit der Richter gewesen und daher nie Mitglied irgendeiner politischen Partei geworden, wie sein Sohn berichtet. Auch Auszeichnungen entgegenzunehmen, habe er als unpassend empfunden.

Die Erfahrungen als "U-Boot" während des NS-Regimes hielten Karl Wahle nicht davon ab, ein geselliger Mensch zu bleiben. Etliche Freunde von Francis Wahle erinnern sich lebhaft, wie gastfreundlich sein Vater war und dass er sie mit Süßigkeiten vom "Sluka" bewirtet habe. Francis Wahles Schwester Anna war nach Kriegsende zu den Sionsschwestern gegangen und wurde als "Schwester Hedwig" Mitbegründerin und spätere Leiterin des Informationszentrums für christlich-jüdische Verständigung in Wien. Nach dem Tod der Mutter – sie starb 1957 an einem Krebsleiden – blieb sie bei ihrem Vater in Wien, während ihr Bruder Francis als katholischer Priester in London arbeitete. Auch Karl Wahle blieb der katholischen Kirche verbunden. Jeden Sonntag war er bei der Messe in der Burgkapelle gewesen und baute sich einen Freundeskreis auf. Da dieser ausschließlich aus Frauen bestand, wurde er auch "sein Harem" genannt, so Francis Wahle.

Karl Wahle blieb bis zu seinem Tod beruflich aktiv. Auch nach seiner Pensionierung hielt der ehemalige Präsident des Handelsgerichts und Erster Präsident des Obersten Gerichtshofes Vorträge (auch im Ausland), schrieb Gutachten, Gesetzeskommentare und Buchbesprechungen. "In der einzigen Woche, die er vor seinen Tod im Spital verbrachte", erinnert sich Francis Wahle, "hatte er noch Buchfahnen korrigiert." Karl Wahle starb am 15. Juni 1970 in Wien.

Franz-Stefan Meissel

Als abschließender Redner versuchte Franz-Stefan Meissel, das Wirken von Karl Wahle in einen rechtshistorischen Kontext zu setzen. Karl Wahle gehöre zu einer Juristengeneration, so Meissel, "welche die Justiz der Nachkriegszeit maßgeblich geprägt" habe. Die "beeindruckende Fülle von Publikationen" von Karl Wahle, insbesondere im privaten Wirtschaftsrecht, lasse die "beachtenswerte richterliche Tätigkeit" fast in den Hintergrund treten. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg hat Wahle am Handelsgericht Karriere gemacht und war 1938 Senatsvorsitzender, als er von den neuen Machthabern gezwungen wurde, den Richterberuf aufzugeben und – um der Deportation zu entgehen – seit 1942 mit seiner Ehefrau im Untergrund zu leben.

Wahle hat in den ersten Nachkriegsjahren das Handelsgericht als dessen Präsident neu aufgestellt und ist bald darauf Richter am Obersten Gerichtshof (OGH) geworden. "Krönender Abschluss", so Meissel, war 1956 die Ernennung zum Ersten Präsidenten des OGH, nachdem Wahle bereits von 1949 bis 1957 Mitglied der Obersten Rückstellungskommission beim OGH gewesen war, die über Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Restitution von Vermögen an NS-Opfer letztinstanzlich entschied. Als Berichterstatter oder Beisitzer, so Meissel weiter, hat sich Wahle in einer Vielzahl von Verfahren eingebracht und sich einmal mehr als "scharfer Denker mit Mut zum eigenen Standpunkt" (Franz Gschnitzer) erwiesen.

Für Meissel stellt Karl Wahle neben dem Zivilrechtsprofessor und Theresienstadt-Überlebenden Heinrich Klang "ein Beispiel dafür dar, dass besonders in der frühen Phase der Rückstellungskommissionen bestens qualifizierte Richter mit hohem persönlichem Einsatz tätig waren." Das Engagement von Persönlichkeiten wie Klang und Wahle, die nach Jahren der eigenen Verfolgung ihre Tätigkeit als Richter wieder aufnahmen und in verantwortungsvoller Stelle am Wiederaufbau der Rechtsordnung mitwirkten, "gebietet höchsten Respekt und erscheint aus heutiger Sicht schlicht bewundernswert", so Meissel abschließend.