Rudolfine Kolmer

Wie eine Zehnjährige den 13. März 1938 erlebte

Rudolfine Kolmer wurde am 24. April 1928 in Wien geboren. Sie stammt aus einem "proletarischen" Elternhaus. Ihr Vater war Zugsführer bei der österreichischen Eisenbahn, ihre Mutter Hausfrau. Sie war ein Einzelkind.

Dass ich Jüdin bin, war mir bis März 1938 nicht wesentlich. In jüdischer Gesellschaft diskutierten meine Eltern auch über Judentum, das Gesprächsthema ansonsten, soweit im Zeitalter des Austrofaschismus möglich, war linke Politik. Schlagartig änderte sich mein Leben, obwohl ich erst zehn Jahre alt war, im März 1938.

12. März 1938: Meine Mutter weinte, mein Vater wirkte bedrückt. Sturm rüttelte an den Fenstern. Am nächsten Morgen ging ich mit der Milchkanne in den Konsum [1] in unserem Haus, um die Milch zu holen. Passanten im Hof des Hauses sagten: "Da geht sie, die Jüdin!" Die Worte klangen feindlich, ich habe sie nicht vergessen, und ich habe heute noch die Straßenszene vor Augen.

Dann folgten die auf mich als Kind bedrückenden Ereignisse. Mein Vater wurde sofort ohne Bezüge außer Dienst gestellt, innerhalb von 14 Tagen hatten wir die Wohnung zu räumen, die Wohnungssuche begann, überall wurden wir als Juden abgewiesen.

Meine Mutter versuchte in Mödling, wo sie Bekannte hatte, eine Wohnung zu finden. Auf der Bahnstation empfing uns ein Schild "Mödling judenrein". Schließlich nahm uns der Chauffeur von Leopold Figl [2] in einem Einfamilienhaus in Floridsdorf auf.

Mitschülerinnen wollten sich beim Schwimmunterricht nicht mehr mit mir in einer Kabine umziehen. Meine Mutter strickte als Heimarbeiterin Pullover, damit unsere Familie ein Einkommen hatte. Da meine Mutter nicht Jüdin war, hatten wir etwas mehr Schutz.

Ich durfte das Gymnasium nicht weiter besuchen und besuchte bis Herbst 1945 keine Schule. Erst im Herbst 1945 gestattete mir der Stadtschulrat, die siebte Klasse eines Gymnasiums wieder zu besuchen. Erfreulicherweise habe ich die Matura geschafft.

Ab 1944 wurde ich in einer Metallwarenfabrik zwangsverpflichtet, in der auch viele ungarische Juden waren. Ich musste im Keller Metallstücke zur Schweißung reichen. Wenn ich auf die Toilette ging, sagte der Vorarbeiter: "Du, Jüdin, wenn du zu oft hinausgehst, kommst ins KZ!" Mein Vater wurde auch als Hilfsarbeiter zwangsverpflichtet, ab 1944 lebte er in der Nähe Wiens im Untergrund.

Meine Eltern und ich haben überlebt, zwei Brüder und eine Schwester meines Vaters wurden deportiert und umgebracht. Cousinen und Cousins von mir überlebten in der Emigration. Vermögen, da wir keines hatten, haben wir nicht verloren, die geringen Ersparnisse wurden ab 1938 zur Lebenserhaltung aufgebraucht.

[1] Als "Konsum" wurden die Filialen – vor allem Lebensmittelgeschäfte – der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Arbeitervereinen gegründeten Konsumgenossenschaften bezeichnet. Das daraus hervorgegangene Unternehmen "Konsum Österreich reg.Gen.mbH" musste 1995 den Ausgleich anmelden.
[2] Leopold Figl (1902-1965), österreichischer Politiker. Ab 1934 Direktor des niederösterreichischen Bauernbundes, zwischen 1938 und 1945 in den KZs Dachau und Mauthausen in Haft, nach 1945 u.a. österreichischer Bundeskanzler und Außenminister, in welcher Funktion er 1955 den österreichischen Staatsvertrag unterschrieb.