Walpurga Horvath

... ich bin geblieben, ich bin am Leben geblieben

Walpurga Horvath wurde am 15. November 1923 in Trausdorf im Burgenland geboren. Die dortige Roma-Siedlung bestand aus drei Häusern, in denen sie und ihre Verwandten lebten. Frau Horvaths Vater arbeitete beim Straßenbau und im Steinbruch, im Winter fertigte er für die Bauern Körbe an, die von Frau Horvaths Mutter in den Dörfern gegen Essen eingetauscht wurden. Walpurga Horvath wuchs mit ihren sieben Geschwistern sehr behütet und unbeschwert auf. Doch kurz nach dem "Anschluss" Österreichs wurden Walpurga und ihre Schwester Stefanie in das KZ Ravensbrück deportiert, wo sie sechs Jahre inhaftiert waren. Die Befreiung erlebte sie, schwer an Tuberkulose erkrankt, im KZ Bergen-Belsen.

Der folgende Auszug aus der Lebensgeschichte von Frau Horvath wurde einem Interview (auf Roman geführt) aus der ZeitzeugInnen-Dokumentation "Mri Historija. Lebensgeschichten burgenländischer Roma" vom Verein "Roma Service" entnommen.

Es war früh morgens, als die SA gekommen ist, man hat nicht viel gesehen, verstehst du? Es war zwischen fünf und sechs Uhr, denn wir waren gerade auf dem Weg zur Arbeit. Es kann auch vier Uhr gewesen sein. [...] Wir haben uns anziehen, zur Arbeit gehen und unsere Scheren und was wir gebraucht haben, noch mitnehmen wollen. "Ihr braucht nichts, ab mit euch!", haben sie zu uns gesagt. [...] Sie haben uns nicht einmal die Schürzen umbinden lassen, die wir gehabt haben. [...] Zu dieser Zeit waren meine Eltern gerade bei meinen Onkeln, die in Großhöflein gewohnt haben. Die haben schöne Häuser gehabt; noch heute stehen diese Häuser in Großhöflein, wenn du die Hauptstraße entlangfährst, kommt ein Hügel, und dort sind diese Häuser. Diese Häuser haben "Gadsche" [1] gekauft. Meine Eltern sind dann ein oder zwei Jahre später inhaftiert und nach Lackenbach [2] gebracht worden. [...] Meine Schwester und meine Cousine Kathi sind mit mir abtransportiert worden, wir drei von Trausdorf. [...] Das war am 25. Juni 1938. [...]

Dann waren wir in Eisenstadt, dort haben sie uns zusammengetrieben, bei der Landesregierung. Dort war eine Sammelstelle, und von dort haben sie uns mit Lastautos nach Fischamend gebracht, wo wir über Nacht geblieben sind. Mit Viehwaggons sind wir dann in die Lager deportiert worden, nach Ravensbrück. Dort waren schon alle Sinti zusammen, viele, viele Roma, so viele Frauen, Sinti, die Jenischen, alle zusammen. [...]

Sie haben uns [in die Waggons] hineinge-pfercht, alles verschlossen, wie wenn man Tiere abtransportiert. Kein Wasser – gar nichts. Und es war so heiß! Nirgends sind sie mit uns stehen geblieben. Und wer nach Wasser geschrien hat, ist angeschüttet worden. [...]

Dort [in Ravensbrück] haben wir "Habt acht" stehen müssen, und von dort haben wir ins "große Bad" gehen müssen. Dort war eine große Kabine, eine Einkleidungskabine, wie sie gesagt haben, für das Häftlingsgewand – sie haben uns unsere Kleidung abgenommen und unseren Schmuck, die schöne Kette von meiner Firmpatin. Zwei oder drei Jahre vorher bin ich gefirmt worden. Und von meiner Mutter habe ich Ohrringe gehabt, wie kleine Brillantsteine – "Vergissmeinnicht". Noch heute sehe ich sie vor mir, auch die haben sie mir weggenommen. [...] Meine Mutter und meine Familie sind nach Lackenbach gekommen. Sie sind ein oder zwei Jahre später ins Lager gekommen. [...]

Dann sind wir in die Baracken gekommen. Im "Block 8", dort war ich. Es hat eine "B-Seite" und eine "A-Seite" gegeben. Überall waren 50 Personen. [...] Wir haben die Erde umgraben und Hügel aufschütten müssen. Wie soll ich sagen, wir haben halt geschaufelt, wir haben große Hügel gemacht. [...] In der großen, großen Hitze haben wir nicht ein Mal Wasser bekommen. Wer zusammengebrochen ist, hat noch Schläge bekommen oder ist von den Hunden gebissen worden. [...] Außerhalb von Ravensbrück war gleich so eine Fabrik [Flugzeugfabrik]. Jeden Tag sind wir in der Früh zur Arbeit gegangen, und am Abend sind wir in die Baracke nach Hause gekommen, mein Gott! Dort waren am laufenden Band Flugzeuge, Fallschirme haben sie gemacht, Militärgewand. Ich war in der Näherei. Dort habe ich die Hosen aufnähen und die Knöpfe einnähen müssen, 110 Mäntel in der Nacht. [...]

Dort war ein kleines Mädchen, sie haben es Kapa genannt. Sie hat zur Paula gesagt, zur Sarközi Paula aus Rudersdorf: "Tante, sind wir schon in Wien?" Sie hat geglaubt, dass sie in Wien ist. Wir haben auch damals trotzdem immer gelacht, wenn wir uns eine Hetz gemacht haben, haben wir uns gegenseitig gefragt: "Tante, sind wir schon in Wien?" [...] Sie haben sie weggebracht. Sie war so ein kleines, verkrüppeltes Mädchen. Sie ist wahrscheinlich gleich umgebracht worden. Einmal habe ich gehört, dass es eine Sammelstelle für die  Geisteskranken gegeben hat. Vor dort sind sie mit denen sofort in die Gaskammer gegangen. Und mit den alten Frauen. Wir, die gearbeitet haben und arbeiten haben können, uns haben sie nicht sterben lassen. [...]

Knapp vor der Befreiung bin ich dann nach Bergen-Belsen gekommen. [...] Dort war die Hölle, in Ravensbrück war, kann man sagen, keine Hoffnung mehr heimzukommen, für nichts mehr. Aber es war [...] noch ein bisschen zum Leben, weil du gearbeitet hast, nicht? Du hast gearbeitet, du hast deine Arbeit gemacht und hast ein bisschen was [zu essen] bekommen. Aber in Bergen-Belsen sind wir angekommen, mit den Holzpantoffeln, Schnee war noch, kalt war es, ich war schon krank, und meine Schwester hat mich, zusammen mit der Pischta von Margarethen, geschleppt. Sie haben mich links und rechts unter den Achseln genommen und sind mit mir gegangen, was sie eigentlich nicht dürfen hätten, denn wenn sie mich gesehen hätten, hätten sie mich erschossen. Und als die Aufseherin gekommen ist, haben sie mich losgelassen, und ich habe noch ein Stück weit gehen können. Ich bin nach Bergen-Belsen gekommen, und dort bin ich dann zusammengebrochen. Da waren wir alle schon halb tot. Meine Schwester hat noch stehen können und ein wenig reden. Die Steffi, die war meine Rettung. Na, und dann war die Befreiung. Eine Woche waren wir dort, ohne Wasser, ohne Bett, ohne Essen, nichts zum Sitzen und zum Stehen, die Baracken waren abgebrannt.

Und als wir hingekommen sind, haben wir von weitem gesehen: "Jetzt können wir hier heizen, es wird uns warm werden, da gibt es Holz!" Da waren so hohe Berge von Holz. Wir haben geglaubt, dass es Holz ist. Und weißt du, was es war? Es waren die Toten! Es waren die Toten: eine Schicht Holz, eine Schicht mit Toten, und dann die Tannenzweige, die Nadelbaumzweige. Sie haben sie vor uns mit Öl angezündet. Und als wir das gesehen haben, es hat so gestunken, da haben sich die Toten aufgebäumt, wie wenn du ein kleines Huhn in den Ofen geben würdest.

Und dann bin ich schwer krank geworden, ich bin schon dagelegen, wir haben dort keine Hoffnung mehr gehabt. Dann war dort so ein gewöhnlicher Soldat, nicht von der SS oder SA, die haben sich schon alle geschlichen, die waren schon fort. Die armen Soldaten haben sie dort hingestellt, das gewöhnliche Militär, so ein junger Mensch war das, und der hat zu uns hinuntergeschrien: "Madl", er muss ein Wiener gewesen sein, "Madl, du hustest so viel!" Und ich habe gedacht: "Ich spreche ihn nicht an, kann sein, dass er mich anredet, nur um mich dann zu erschießen." So bin ich hineingegangen [in die Baracke], es hat sowieso keine Betten gegeben, keine Türen, nichts war da außer den abgebrannten Ruinen. Er hat gesagt: "Fürchtet euch nicht, heute werden wir frei, heute werden wir frei."

Und nicht weit weg war der Wald, es waren große Wälder rundherum, wie in Mauthausen, überall haben sie die KZ so angelegt. Und wir haben gehört, dass bombardiert und geschossen wird, und die Panzer sind bis ins Lager gekommen, die Franzosen und die Schotten, und wir haben gesagt: "Jaj, die tragen Röcke!" Wir haben ihre Uniform nicht gekannt. Es waren die Briten, die uns befreit haben. Eine Stunde später, und ich wäre heute nicht mehr hier. [...] Du hättest sehen müssen, wie schnell sie ihre Zelte aufgestellt haben. Es waren Leute dabei, die dir Injektionen gegeben haben, sie haben allen nur Injektionen gegeben, denn zu essen hat es nichts gegeben, und keiner hat mehr essen können, alle sind nur mehr gelegen. Bis auf meine Schwester und dieses eine Mädchen aus St. Margarethen. Und die schönen Mädchen, ach, die Koki aus Bernstein, so ein schönes Mädchen, mit so schönen, langen blonden Haaren, sie ist an diesem Tag gestorben, die Koki. Rosl, Rosalia hat sie eigentlich geheißen. O weh!

Uns haben sie von dort weggebracht, in SS-Heime haben sie uns gebracht, sie haben Spitäler gemacht, Notspitäler. Dort waren Betten, drei Betten waren in jedem Zimmer, ich bin in der Mitte gelegen. Und jeden Tag haben sie, links und rechts, Kinder gebracht. Als ob Gott auf mich geschaut hätte, ich bin geblieben, ich bin am Leben geblieben. Der ungarische Soldat hat gesagt, "Wali", er hat nicht Walpurga sagen können, "Wali, die sind nach Hause gegangen", wenn sie gestorben sind. "Warum kann ich nicht nach Hause gehen?" "Nein, Wali, du bleibst bei mir!" Und dann habe ich geweint und gesagt: "Meine Schwester ist auch tot, meine Schwester ist tot." Aber sie war nicht tot. Sie war nur in einer anderen Baracke, weil sie gesünder war. Sie waren in einem Heim, in so Siedlungen, da waren die, die gesünder waren. Wir waren infektiös, wir haben Tuberkulose und andere Krankheiten gehabt. [...] Der ungarische Soldat hat zu mir gesagt, dass meine Schwester lebt, die Steffi. Na, wie kann er das sagen? "Sie hat eine rote Bluse an und schaut herunter und sucht dich." "Na, dann sag ihr, wenn du sie triffst, dass ich lebe und hier bin." "Ich sage es ihr immer, aber sie darf nicht." So hat er mich getröstet, weil ich immer geweint habe. [...] Sie hat geglaubt, dass ich schon gestorben bin, und ist immer zum Massengrab gegangen und hat Blumen niedergelegt, die sie auf den Feldern gepflückt hat. Sie hat gesagt: "Meine Schwester ist ja tot! Meine Schwester lebt nicht mehr!" Und die Ärzte haben ihr gesagt: "Das ist deine Schwester!" Als wir dann zusammengekommen sind, so ein Glück, so eine große Freude haben wir gehabt.

Wie durch ein Wunder überlebten bis auf einen Bruder und eine Nichte alle ihre Familienangehörigen die Lager- und KZ-Haft. Nachdem Walpurga und ihre Schwester Stefanie für eineinhalb Jahre zur Erholung in Schweden waren, kamen sie im Oktober 1947 wieder nach Österreich zurück. Walpurga und ihre Familie bekamen ein Zimmer im Gemeindehaus Trausdorf zugewiesen, da alle Häuser zerstört worden waren.

Als wir nach Hause gekommen sind, war es schön für uns, sehr schön. [...] Die ganze Traurigkeit ist weg gewesen, zuhause ist zuhause. Daheim ist daheim, und wenn es nur eine Hütte ist, ich sage es so. Nur die innerliche Liebe, die menschliche Liebe zählt – die finanzielle Liebe, die materielle Liebe, die hat uns nicht interessiert. Wir waren zwar froh, dass wir dort eingekleidet worden sind und dass wir zu essen gehabt haben. Innerlich sind wir aber nicht gesund geworden. Wir waren immer krank, seelisch krank, und das verliere ich jetzt auch nicht, glaube es mir, das habe ich immer in mir, immer.

[1] Bezeichnung für alle Nicht-Roma.
[2] Zwangsarbeiter- und Deportationslager in Lackenbach, Mittelburgenland.