Gerda Thenner
Therese Thenner - die Lebensgeschichte meiner Großtante
"Der Mensch hat keinen Wert, sondern Würde.“ (Immanuel Kant)
Aber gerade die Würde, das Recht auf Leben, wurde Resi Tant' abgesprochen ...
Therese Thenner wurde am 5. Oktober 1905 in Kottingneusiedl 17, einem kleinen 280-Einwohner-Dorf im Nordosten Österreichs, geboren. Dort verbrachte sie ihre Kindheit und Jugend. Sie wurde in eine Zeit großer Umbrüche hineingeboren. Als Kind erlebte sie noch die Monarchie, dann die Erste Republik und den Ständestaat. Offiziell starb Therese Thenner 1941 in Hartheim an einer Lungenentzündung. Laut Familienüberlieferung wurde sie von den Nazis in Hartheim[1] ermordet.
Diese Information über meine Großtante Therese war mir schon seit meiner Kindheit bekannt. Ich konnte sie jedoch nicht so recht einordnen. Warum ermordet? Es fielen auch noch die Begriffe „psychisch krank“ und „Irrenanstalt Gugging“[2]. Mit diesen Begrifflichkeiten konnte ich nicht viel anfangen. Da interessierte mich schon mehr, dass da auch etwas war mit einer unerfüllten Liebesgeschichte, angeblich mit dem Lehrer in unserem kleinen Dorf.
Ihre wahre Lebensgeschichte und vor allem die Umstände, die zu ihrem Tod geführt hatten, blieben für mich jedoch im Dunkeln. Und viele Jahre dachte ich nicht wirklich länger über ihr Schicksal nach. Bis zum Jahr 2004 – da beschloss mein Vater, die Ausstellung „Der Wert des Lebens“ im Schloss Hartheim zu besuchen. Schloss Hartheim war für ihn immer der Ort, wo vermutlich seine Tante Theresa getötet wurde bzw. offiziell – nach den Erinnerungen meines Vaters – an „Lungenentzündung“ gestorben ist.
Da es aber bis in die 1980er-Jahre kaum eine Aufarbeitung des Themas Euthanasie während der NS-Zeit gab, blieb das Schicksal meiner Tante für ihn nicht erforschbar und geriet in Vergessenheit. Jedoch vernahm auch ich (Jahrgang 1970) immer wieder gelegentlich Aussagen wie: „Die Tante wurde ja von Hitler umgebracht, weil sie psychisch krank war.“ Diese Aussagen dürften mich schon berührt haben, jedoch konnte ich als Kind und Teenager nicht so viel damit anfangen, außer dass mir im Bewusstsein blieb: „Auch meine ganz ‚normale‘ Familie hat die NS-Diktatur bis ins Mark getroffen.“ Aber wie gesagt, meine Großmutter und die andere Großtante, Lisi-Tant‘ (Ordensschwester Imberta), wollten (oder konnten) einfach nicht darüber sprechen.
Mein Großvater starb schon im Dezember 1944, und Oma stand mit drei kleinen Kindern da. Sie machte sehr schwere Zeiten durch nach Kriegsende mit einem zerbombten Haus, einer Landwirtschaft und ganz alleine in einem kleinen Ort. Lisi Tant‘ war schon seit 1937 im Kloster und kam nur „alle heiligen Zeiten“ auf Besuch. Jedenfalls war es für Oma am wichtigsten, für ihre später auch noch an TBC[3] erkrankten Kinder zu sorgen und nicht sich mit dem Schicksal ihrer Schwägerin auseinanderzusetzen.
Aber meinen Vater hat das Schicksal seiner Tante nie losgelassen. Er wollte herausfinden, ob seine Tante in der Gedenkstelle des Schlosses verewigt ist. Ich schloss mich meinem Vater, meiner Mutter und Vaters Schwester Gerti, meiner Tante, an. Hier beginnt meine Recherchegeschichte – und vor allem das Interesse, so viel wie möglich über das Schicksal meiner Großtante zu erfahren. Resi Tant', wie sie in der Familie genannt wurde, wurde erst da für mich zu einer realen Person, ja einer (jungen) Frau und nicht irgendeiner alten Großtante, die nicht mehr lebt.
Bei der Dokumentationsstelle hatten wir an diesem Tag kein Glück, und auch den Namen meiner Tante auf der Gedenktafel (mit 3.000 Namen) fanden wir nicht. Die „Geschichte der Euthanasieaktionen in den Räumlichkeiten auf Schloss Hartheim“ machte uns sehr betroffen. Für mich stand fest, dass ich versuchen würde, mehr über meine Verwandte zu erfahren, um ihr in dieser grauenvollen mörderischen Anonymität eine Identität zu geben, was auch der Hauptgrund meines Schreibens ist. Sie soll in unserer Familiengeschichte einen Platz bekommen. Sie wurde Opfer einer menschenverachtenden Ideologie und eines mörderischen Regimes, was wir nie vergessen dürfen.
Laut Erzählungen nannte ihr Vater Therese (Resi Tant') die „Blume des Feldes“ und ihre jüngere Schwester Elisabeth (Lisi Tant‘) die „Blume des Hauses“. Als jüngstes Kind war Elisabeth wahrscheinlich von der Feldarbeit verschont worden.
Tante Therese war ein intelligentes Kind, aber sie hatte in dieser schwierigen Zeit keine Möglichkeit, eine höhere Schule zu besuchen. Mündlicher Überlieferung zufolge soll mit 25 Jahren die gescheiterte Liebesbeziehung zum jungen Lehrer des Ortes der Beginn ihrer psychischen Probleme gewesen sein. Ihre zerbrochene Beziehung ließ große Zweifel aufkommen, ob sie je eine eigene Familie haben werde und aus dem kleinen Ort ausbrechen könne, wonach sie sich laut ihrer späteren Krankenakte sehnte.
Ihr Bruder und ihre Schwägerin, meine Großeltern, bei denen sie wohnte, hatten 1930 geheiratet, und bis 1940 wurden vier Kinder geboren. Das Zusammenleben mit Therese gestaltete sich einige Jahre lang äußerst schwierig. Der psychische Zustand von Therese verschlechterte sich Anfang der 1930er-Jahre, was zu zwei kürzeren Aufenthalten in der psychiatrischen Krankenanstalt Gugging geführt hatte. Mitte der 1930er-Jahre verweigerte sie immer wieder die Nahrung, und ihr Verhalten war zeitweise von starken Aggressionen geprägt. Die Familie wurde mit dieser Situation nicht fertig und wollte ihr professionelle Hilfe ermöglichen. Am 6. Juli 1937 wurde sie wieder in die psychiatrische Krankenanstalt Gugging eingewiesen.
Thereses Vater arbeitete zu dieser Zeit seit einigen Jahren als Art Verwalter im Herz-Jesu-Kloster in Nieder-Hollabrunn. Laut mündlichen Überlieferungen war mein Urgroßvater extrem herrschsüchtig und zeitweise auch aggressiv. Jahrelang soll er die junge Familie meines Großvaters gequält haben mit Vorwürfen, sie wären zu faul, würden nicht früh genug aufstehen, um zu arbeiten usw. Jedenfalls dürfte meine Großtante Elisabeth, die ins Kloster eintrat (Schwester Imberta), veranlasst haben, dass er von der Jungfamilie wegzieht und als Verwalter in dem oben genannten Kloster arbeiten konnte. Es gab auch noch einen weiteren Sohn in der Familie, Michael (geb. 1904), das „schwarze Schaf“, von dem ich erst im Sommer 2004 erfahren hatte. Er habe es bei dem autoritären Vater nicht ausgehalten und ging in jungen Jahren weg. Angeblich hatte er später Alkohol- oder Drogenprobleme. Michael Thenner ist 1930 in Klosterneuburg, wo er als Kutscher arbeitete, eines natürlichen Todes gestorben.
„Dank“ der dokumentarischen Gründlichkeit im nationalsozialistischen Reich sind im Bundesarchiv Berlin im Bestand Kanzlei des Führers, Hauptamt IIb (R179) 30.000 Patientenakten aus der ersten Phase der „Euthanasie“-Aktionen im „Dritten Reich“, die im August 1941 endete, aufbewahrt. Darunter gab es unter der Signatur R 179/22129 auch eine Akte von Therese Thenner.
Ich schrieb an die E-Mail-Adresse des Bundesarchives und konnte die Patientenakte anfordern. Jedoch wurden die Geburtsurkunden der drei noch lebenden engsten Verwandten und ihre Einverständniserklärungen für die Einsichtnahme in die Akte verlangt. Nachdem diese Dokumente nachgeliefert wurden, vergingen ca. sechs Wochen. Und dann war es ein ganz eigenartiges Gefühl, diese Akte in den Händen zu halten und über meine Großtante zu lesen. Das war der Moment, wo sie für mich eine noch relativ junge Frau mit einer Persönlichkeit wurde.
Auf der ersten Seite der Akte finden sich persönliche Angaben zu ihrer Person, Angaben zu Ärzten, zu verständigende Personen. Ihr Bruder Josef ist als erster angeführt, und dann noch mit X markiert der Name ihres Vaters.
Folgende Informationen finden sich beim Punkt „Direkte Aufnahme“:
„Gute Schülerin. Vorpsychotische Persönlichkeit, gesellig, gleich beleidigt, gottesfürchtig, Romanlesen, Freude an kleinen Kindern, sehr empfindlich, sehr phantasievoll
Bei der Besprechung zugänglich, sehr gesprächig, die sprachlichen Entäusserungen hochtrabend, manirierte Ausdrucksweise. Grimassiert. Sie stammt aus einer bäuerlichen Familie, will aber in höhere Kreise, da sie da nichts arbeiten braucht, Beamtensfrau für Haushalt hätte sie Freude, aber keine Bauernsarbeit, denn die Leute stinken, verstehen nichts von der frischen Luft. Sie ist geistig über allen gestanden. Sammelt die kleinen Kinder um sich, liest ihnen vor. Geisteskrank ist sie nicht. ‚Ich hab mein ruhiges Temperament, und bin froh, dass ich so ruhig bin.‘ […] Stimmen werden nicht zugegeben. Schwärmt vom Wald und der frischen Luft. Neigung zur Dissimulation.
Liegt unter einer Decke, autistisch, kein Verkehr mit der Umgebung […]“
Die weiteren Einträge stammen vom 7.7., 15.7 und 19.7.1937 – dann gibt es den Vermerk zur Diagnose: „Schizophrenie“ (20.7.) und „Anhaltung zuläß. Frist: 6 Monate (6. Aug. 1937)“
So wie ich diese Notizen verstehe, stammen einige Angaben von ihr selber, einige von ihren Verwandten und auch Interpretationen vom aufnehmenden Arzt.
In den folgenden Jahren gibt es in Thereses Patientenakte einige Einträge, die ich hier versehen mit kurzen Kommentaren wiedergeben möchte:
„1937: Beschäftigung in Strickstube, zeitweise ruhig, dann wieder aggressiv / abweisend;
11.12. Ungeordnet, legt sich am Boden, verlangt ihre Entlassung
1938: kaum Veränderung / aggressiv, autistisch, zugänglich / abweisend“
Die Cardiazol-Schocktherapie (mit Horrorvisionen und Todesangst verbunden) wurde bei Tante Therese am 11.5. bis 29.5.1938 durchgeführt – Einvernehmen wurde eingeholt, und man erwartete sich eine Verbesserung.
„1939: unverändert“ – einziger Eintrag
„1940: 20.2. drängt auf Entlassung“
Die Einträge reichen abwechselnd von „sehr fleißig“ bis zu „weitgehende Persönlichkeitsveränderung“.
4.12.: Letzter Eintrag: „unverändert“
„9. Jan. 1941 in eine der Direktion nicht genannte Anstalt übersetzt“ (mit Stempel und Unterschrift des Direktors)
Und so endete das Leben meiner Großtante Therese, von Resi Tant‘.
[1] Basierend auf der so genannten NS-Rassenhygiene, wurden von 1939 bis 1945 – zunächst unter der Bezeichnung „Aktion T4“ nach dem Sitz der zuständigen Dienststelle in Berlin, Tiergartenstraße 4 – über 200.000 Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen in speziellen Tötungsanstalten ermordet. Allein im oberösterreichischen Schloss Hartheim kamen fast 20.000 Personen im Zuge der „NS-Euthanasie“, unter anderem in eigens eingebauten Gaskammern, ums Leben. Seit 2003 dient Schloss Hartheim als Lern- und Gedenkort.
[2] Gegründet am 1. April 1885 als Irrenanstaltsfiliale Gugging-Kierling, war die Landesnervenklinik im niederösterreichischen Maria Gugging während der Zeit des Nationalsozialismus ein Ort, wo mehr als 2000 Personen durch Vergasen, Elektroschocks, Vergiften und systematisches Verhungernlassen ermordet wurden. Weitere 600 Patienten wurden nach Schloss Hartheim gebracht, wo sie durch Kohlenmonoxid getötet wurden.
[3] Tuberkulose, eine bakterielle Infektionskrankheit, die hauptsächlich die Lunge befällt.