Ingeborg R.

Wir waren ja asoziale Menschen

Ingeborg R. wurde 1932 in Wien als Kind einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters geboren. Ingeborg R.s Mutter ließ sich 1935 von ihrem Mann scheiden, lebte jedoch weiterhin mit ihm zusammen. Als "Mischlinge 1. Grades" standen sowohl Ingeborg R. als auch ihre Schwester nach dem "Anschluss" unter ständiger Beobachtung durch die Behörden. Ihr Vater flüchtete, doch viele seiner Verwandten wurden deportiert und ermordet. Frau R.s Mutter wurde durch die Verfolgung und die Demütigungen psychisch krank und kam nach Kriegsende in die Heil- und Pflegeanstalt "Am Steinhof", Ingeborg R. und ihre Schwester wuchsen bei der Großmutter und in verschiedenen Heimen auf. Noch heute leidet Frau R. an den Folgen dieser Zeit.

Mein Vater flüchtete im September 1938 nach Frankreich in die Fremdenlegion. Ebenfalls im September 1938 begann ich mit der Schule. Ich sollte den Judenstern tragen! Wir mussten uns nach Vaters Flucht immer persönlich auf der Wache melden, ich glaube monatlich, damit wir nicht ins Ausland gingen. Meine Mutter nahm ihren ledigen Namen wieder an. Meine Schwester wurde am 5. März 1939 auf den Namen Herta B., Vater unbekannt, geboren.

Nachdem Vaters Geschwister mit ihren Familien (insgesamt 13 Personen) alle abgeholt worden waren [sie wurden nach Mauthausen bzw. Theresienstadt deportiert und später ermordet], ein Cousin nach Schweden adoptiert und ein Cousin in der Steiermark versteckt worden war, begann meine Mutter um mich zu kämpfen. Endlich erhielt ich die Bewilligung, ohne Stern in die Schule zu gehen, mit der Auflage, nur die Volksschule absolvieren zu dürfen, und zwar in einer bestimmten Schule (Staudingergasse), was einen täglich halbstündigen Schulweg bedeutete und zurück.

Meine Mutter wurde arbeitslos und schließlich nervenkrank, das war furchtbar. 1940/41 kam ich zum ersten Mal ins Kinderheim, wo ich unter anderem in der Wäscherei arbeiten musste. Ich galt als asoziales jüdisches Wesen. Auch meine kleine Schwester kam 1941 für einige Monate in ein Heim – in die Kinderanstalt "Am Spiegelgrund" [auf dem Gelände der Heil- und Pflegeanstalt "Am Steinhof"]. Die Familie wurde getrennt. Mit zirka zehn Jahren erkrankte ich schwer an einer Gelenksentzündung mit Lähmungen, was einen wochenlangen Spitalsaufenthalt notwendig machte.

Fast am Ende des Krieges wurden wir bei der gegenüber [unserer Wohnung] stationierten SS als "Judenpack" gemeldet, so dass wir bei Nacht im brennenden Häusermeer zur Großmutter, 20., Rauscherstraße 5, flüchteten, die uns 1944/45 bis Kriegsende im Keller versteckte.

Meine Mutter hat dies alles nicht verkraftet, nach 2- bis 3-maligen Nervenzusammenbrüchen wurde sie im Dezember 1945 nach Steinhof eingewiesen. Meine kleine Schwester kam erneut ins Kinderheim und später zu Pflegeeltern, ich in die Lustkandlgasse [Kinderübernahmestelle der Stadt Wien] und dann in ein Lehrlingsheim. Ich musste für den Aufenthalt Arbeiten im Heim verrichten (waschen, putzen), in der "Freizeit" stricken und Taschen knüpfen. Die Arbeiten wurden verkauft – wir waren ja "asoziale" Menschen. Wenn man sein "Pensum" erfüllt hat, war einmal im Monat ein Besuch der Großmutter erlaubt. Die Arbeit im Heim war manchmal unzumutbar. Ich war unterernährt und hatte mit 14 Jahren das Gewicht einer 10-Jährigen.

Ich habe die letzte Klasse noch fertig gemacht und bekam danach durch das Lehrlingsheim im 15. Bez., Kriemhildplatz, im Mai 1947 eine Stelle als Verkäuferin. Mein Vater war inzwischen zurückgekommen. Mein Leben begann nun neu. Nur die Kindheit wurde verdrängt. Geblieben ist die Angst vor Feuer, Schüssen, Kellern, Dunkelheit und Verfolgung.

Als ich im März 1956 mit meinem Mann in die Schweiz ging, versuchte ich, alles hinter mir zu lassen, das Schwere zu verdrängen, so dass bis heute in der Schweiz niemand über meine jüdische Vergangenheit und Abstammung weiß. Aus Angst vor neuer Missachtung und Verfolgung. (Der Antisemitismus blüht ja leider schon wieder auf.)