Kurt Flussmann

Stationen meines Lebens

Mein Name ist Kurt Flussmann. Ich bin 1923 in Wien zur Welt gekommen. Jetzt, in hohem Lebensalter, habe ich mich zur Niederschrift meiner Lebensgeschichte entschlossen, weil ich es wichtig finde, dass das, was ich und meine Generation erlebt und erfahren haben, niemals in Vergessenheit gerät ...

Die Kindheit

Meine Eltern waren bereits getrennt, bevor ich zur Welt kam, und hatten jeweils wieder einen neuen Partner. Ich lebte bei meinen Tanten, Paula und Camilla, zwei Schwestern meines Vaters, die sich – obwohl beide bereits über 50 Jahre alt – um mich kümmerten und bemühten. Wenn ich schlimm war, dann rief man mich "Kurti", das weiß ich noch. Ich erinnere mich, dass Tante Paula gerne mit mir Halma spielte, und sie gewann immer. Obwohl meine Tanten sehr liebevoll waren, vermisste ich dennoch immer das Gefühl von Geborgenheit, welches, wie ich finde, eben nur Eltern geben können.

Wenn ich an meine Eltern zurückdenke, so erinnere ich mich, dass Mutter sehr viel gearbeitet hat. Sie war meiner Großmutter sehr zugetan und half ihr in ihrem Ottakringer Lebensmittelgeschäft. Sie war eine sehr fleißige und tüchtige Frau. Ich habe sie immer beschäftigt erlebt. Vater war im Reisebüro Schenker & Co tätig. Er war beruflich oft in Italien und reiste viel. Mein Vater war ein nachdenklicher Mensch, den ich als starken, kräftigen Mann in Erinnerung habe. Wir hatten wenig persönlichen Austausch, und ich habe mich eigentlich vor ihm gefürchtet. Als Kind habe ich immer wieder abwechselnd zwei Tage bei Mutter im 16. Bezirk oder zwei Tage in der Nähe meines Vaters, bei meinen Tanten, gewohnt, um den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Es war ein ständiges Hin und Her. Die Erziehung jedoch blieb bei meinen Tanten.

Ich besuchte schließlich im zweiten Wiener Gemeindebezirk die Volksschule und vier Klassen Realgymnasium. Ein besonders guter Schüler war ich nicht, und das Lernen fiel mir schwer. Geographie und Geschichte hatten mir noch am meisten zugesagt. Nach der Grundschule lernte ich auf Wunsch meines Vaters ein Jahr lang an einer internationalen Hotelfachschule, die sich im ersten Bezirk in der Kurrentgasse befand. Es war Vaters Wunsch, dass ich einmal in Italien im Hotelfachgewerbe arbeiten sollte. Das Schicksal wollte es jedoch anders.

Die Jugendjahre

Alles änderte sich, als am 12. März 1938 die Deutschen einmarschierten. Die Zeiten wurden unsicher, und meine Familie dachte nur daran, wie sie mich außer Landes und in Sicherheit bringen konnte.

Eine meiner Tanten arbeitete in der Israelitischen Kultusgemeinde. Dank ihrer Beziehungen zu einer Bekannten, die ebenfalls dort angestellt war, gelang es, mich auf die Liste für die Kindertransporte nach England zu setzen. [1] Meine Tanten bereiteten mich ein Jahr lang gründlich darauf vor, dass ich nach England, zu meiner Tante Eva, müsse. Sie achteten darauf, dass mir in dieser Zeit nichts geschah. Den Druck und die Angst in dieser Zeit habe ich sehr wohl mitbekommen, aber ich war jung und noch ziemlich unbekümmert und wusste nicht, was auf mich zukommen würde.

Manchmal schickten mich meine Tanten mit einem Korb voll Eier zu einer Frau Siegel in die Novaragasse. Meine Tanten kümmerten sich um die alte Dame und versorgten sie immer wieder mit Kleinigkeiten. Es war ein Fußweg von 15 Minuten, und ich achtete auf die wertvollen Eier, schaute nicht links oder rechts, sondern versuchte den Transport so rasch wie möglich zu erledigen. Frau Siegel legte Karten auf – und sie hatte mir eine lebhafte und rege Zukunft vorhergesagt. Ich werde große Reisen machen, meinte sie. Wie recht sie hatte, konnte niemand ahnen ...

Im Jänner 1939 schließlich, eine Woche vor meinem 16. Geburtstag, wurde ich in aller Heimlichkeit zum Westbahnhof gebracht, wo viele andere Kinder und Jugendliche ebenfalls versammelt waren. Alles ging sehr rasch und mit größter Vorsicht. Meine Tanten trichterten mir noch ein, dass ich brav sein solle, und der Abschied der Eltern war kurz und kühl, um nicht zu viele Emotionen aufkommen zu lassen. Zu dieser Zeit brach der Kontakt zu meinen Verwandten in Wien ab.

Ich war nun unterwegs in eine für mich völlig ungewisse Zukunft und nur mit dem Notwendigsten, einem kleinen Pinkerl, ausgestattet. Die Zugreise führte über Holland zum Hafen Hoek van Holland [2] und von dort weiter mit einem holländischen Schiff an die Ostküste Englands nach Harwich. Es war meine allererste Reise mit einem Schiff, und ich war ungemein beeindruckt. Wir wurden dann von Harwich mit einem Zug nach London gebracht. Tante Eva, die dritte Schwester meines Vaters, war von Rumänien nach England in die Emigration gekommen und erwartete mich am Bahnhof. Da wir einander noch nicht persönlich kannten, wurde ich namentlich ausgerufen. Wie alle Kinder hatte ich ein Schild umgehängt, auf dem mein Name und der Ankunftsort geschrieben standen.

Tante Eva hatte in London ein kleines boarding house, eine Pension, in der ich nun in einem der Gästezimmer wohnte. Das war mein erstes eigenes Zimmer. Ganz am Anfang blieb ich vorwiegend im Haus, ging ein bisschen spazieren oder ins Kino. Meine Tante hatte englische Gäste im Haus, die sie mit Frühstück und kleinen Mahlzeiten versorgte. Sie war sehr beschäftigt. Nachdem ich aber von der Schule her gut Englisch konnte, fand ich mich bald zurecht. Tante Camilla gelang es, ein paar Monate später aus Wien nachzukommen. Tante Paula hat es nicht mehr geschafft ...

Bald erhielt ich eine Lehrstelle bei einem Juwelier, Mr. Joe Freeman, der mich allerdings nur zu Arbeiten zuließ, die nichts mit dem eigentlichen Juwelierberuf zu tun hatten. Er setzte mich vor allem als Laufburschen ein. Ich erledigte Botendienste zur amerikanischen Botschaft mit persönlichen Unterlagen meines Lehrherrn, der begonnen hatte, wertvolle Gegenstände nach Amerika zu transferieren. Berufsspezifisches lernte ich nicht, so dass ich mich bald überflüssig fühlte und die Lehre aufgab. Schließlich nahm ich noch 1939 eine Aushilfstätigkeit in einem Hotel an der Ostküste, in Eastbourne, in Folkstone bei Dover, an. Dort blieb ich bis zur Internierung am 10. Mai 1940. [3]

Im Juni 1940 wurde ich, vom Frühstück weg, von zwei Beamten in großer Eile nach Liverpool gebracht, zusammen mit anderen Flüchtlingen, und es wurden Transporte zusammengestellt, um uns außer Landes zu bringen. Meine Tanten hatten keine Ahnung – jeder Kontakt war abgebrochen, ich erhielt keine Informationen und wurde wie ein Gefangener einfach abgeführt. Die Transporte sollten entweder nach Kanada oder zur Isle of Man gehen. Ohne dass ich es wusste, fuhr jedoch mein Schiff, die "Dunera" – als einziges – nach Australien.

Die Überfahrt

Die Engländer trieben uns wie Verbrecher auf die "Dunera". Nur mit einer Zahnbürste und dem Notwendigsten. Man versprach uns, dass wir ja bald wieder zurückkämen, um uns zu beruhigen. Am 10. Juli 1940 lief die "Dunera" von Liverpool aus.

Außer uns Flüchtlingen waren auch italienische und deutsche Kriegsgefangene an Bord. [4] Wir wurden unter Deck eingepfercht und durften zwei Monate nicht nach oben, die Engländer bewachten uns mit aufgepflanztem Bajonett. Unsere Notdurft mussten wir auf den Boden verrichten. Ich schlief die gesamte Überfahrt auf einem Tisch. Das Essen wurde von Matrosen gebracht. Wir hatten vor lauter Schrecken überhaupt kein Selbstwertgefühl mehr. Es war trostlos. Nicht nur, dass wir in ständiger Angst waren, torpediert zu werden und unterzugehen, wir hatten keine Ahnung, wie lange die Fahrt dauern würde und wohin es ging. Ab und zu durften wir an Deck, das war alles. Man hielt uns wie Gefangene. Wir waren völlig ausgeliefert.

Als es am Schiff immer wärmer wurde, erfuhren wir schließlich nach acht Tagen, dass die Fahrt nicht nach Kanada führte, sondern dass wir nach Australien gebracht werden sollten. Die Überfahrt nach Kanada war zu gefährlich geworden. Ein anderes Schiff, das eine Woche vor unserem abgefahren war, war mit 1200 Menschen an Bord nach einem Torpedotreffer untergegangen. Das war ein Schock. [5]

Die Stimmung unter den Mitreisenden war deprimierend. Wir waren ausschließlich Männer zwischen 16 und 60 Jahren. Einige wurden ernsthaft krank und von uns abgesondert. Die erste Zwischenlandung hatten wir in Sierra Leone, an der Westküste Afrikas. Wir durften natürlich nicht ins Freie, und so sah ich durch eine Luke zum ersten Mal in meinem Leben Schwarzafrikaner.

Text des Liedes "They sang on the Dunera" (PDF), in dem ein unbekannter Autor die Überfahrt der "Dunera" nach Australien beschreibt.

In Perth, Westaustralien wurden schließlich die Italiener und Deutschen von Bord gelassen, und die meisten Flüchtlinge, die von Verwandten erwartet wurden, durften dann in Melbourne von Bord. Für mich und den Rest der Mitreisenden, wir waren noch einige hundert Personen, ging die Reise noch ein Stück weiter nach Sydney. Am 6. September 1940 wurden wir dort schließlich vom Roten Kreuz mit Esspaketen empfangen.

Aber neuerlich wurden wir danach für Transporte zusammengestellt, und es ging nun nach New South Wales, wo in der Zwischenzeit bereits mehrere Lager in der Wüstenstation Hay errichtet worden waren. Es lebten ein paar tausend Menschen hier. [6] 33 Monate durften wir nicht aus dem Lager. Man hatte uns als "Kriegsgefangene" hinter Stacheldraht gesetzt.

Das Lagerleben

Die Stimmung im Lager war gedrückt. Die Zukunft war ungewiss, und wir lebten sozusagen "von Tag zu Tag", ohne Pläne und konkrete Aufgaben. In jeder Baracke waren 18 Personen untergebracht. In einer großen Baracke befanden sich der Speisesaal und die Lagerleitung, und der Sportplatz war in der Mitte des Lagers. Die Tage hatten wenig Struktur. Einziger strenger Fixpunkt war die "9-Uhr-Parade" am Morgen. Wir wurden zwar nicht extra geweckt, aber es war klar, dass wir angekleidet pünktlich zur Parade zu erscheinen hatten, die Leutnant O'Neil, ein Halbaustralier, abhielt. Täglich wurden wir durchgezählt. Es war immer das gleiche Ritual. Dann war den ganzen Tag nichts zu tun. Ein leidiges Dahinvegetieren, ohne Ziel und absehbarem Ende. Etwas Abwechslung boten bescheidene Sportmöglichkeiten, wie Handball oder Fußballspiele. Man konnte Schach spielen, musizieren, oder wir unterhielten uns.

Einmal wurde eine Show zusammengestellt. Der Titel war: "Say Hay for Happy and you be Happy in Hay". In dieser Aufführung ging es vor allem um Fröhlichkeit und Lachen. Die Show diente unserer Unterhaltung und moralischen Erbauung. Die Lagerbewohner spielten mit, und es wurde gesungen und musiziert. Es war sehr gut gelungen.

Aus England kam schließlich Major Leighton ins Lager nach Hay und versuchte, unserem ungerechten Schicksal ein Ende zu machen. Er war sozusagen das "Sprachrohr" der englischen Regierung. [7] Er war unser Fürsprecher. Weiters war Herr Dr. Gelis, ein Rechtsanwalt, als Verbindungsoffizier eingesetzt worden und bemühte sich um Vermittlung zwischen Lagerleitung, Major Leighton und uns Insassen. Er versuchte, unsere Zukunft zu regeln. Alle, die verheiratet waren und Familie oder Kinder hatten, durften zu ihren Verwandten nach England zurückfahren. Das war im Frühjahr 1941. Ich überlegte es mir auch, aber die Gefahr erschien mir zu groß. Ich wusste ja nicht, was mich bei der Überfahrt oder auch in England erwarten würde.

Nach dem Angriff auf Pearl Harbour im Dezember 1941 ließ Major Leighton ein Arbeitslager in Tatura, Bundesstaat Victoria, errichten, in das wir auf dessen Anraten 1943 übersiedelten. Klimatisch und landschaftlich war es hier für uns gesünder und besser. Wir konnten gärtnern und bauten unser Gemüse, das wir dann an die Küche lieferten, selbst an.

Eine kleine Begebenheit fällt mir ein, wenn ich das Lied "Brüderlein fein" höre. Herr Georg Willner, ein älterer Herr, hatte mir immer wieder Mut zugesprochen: "Brüderle, nur durchhalten, es wird schon alles gut werden zum Schluss", tröstete er mich oft, wenn er mich niedergeschlagen sah. Er war ein geschickter, kluger Mensch, konnte gut schnitzen und hat unsere Hütte in Tatura verschönert.

Damit ich der Untätigkeit entkommen konnte, entschloss ich mich, nach endlos scheinenden 33 Monaten im Arbeitsbataillon mitzuarbeiten. Ich war nicht wirklich freiwillig bei dieser Arbeit, aber was hätte ich tun sollen? Aber als ich sah, dass sich einer nach dem andern dem Arbeitsbataillon anschloss, ging ich eben mit. Ich war ca. 19 Jahre alt – eine andere Alternative sah ich zu dieser Zeit nicht für mich.

Wir arbeiteten bei einem australischen Obstfarmer, wo wir auch untergebracht waren, und pflückten Orangen und Pfirsiche, um uns auf das Leben danach vorzubereiten und uns an die Freiheit zu gewöhnen. Danach kamen wir in die australische Armee, zum Pioneer Corps, das von der Regierung gestellt wurde, und unser Arbeitsbataillon bekam die Uniform der australischen Armee. In jedem Bundesstaat Australiens gab es unterschiedliche Bahnspuren, und unsere Aufgabe war, die schweren Munitionskisten im Bundesgrenzgebiet zwischen Albury [8] und Victoria von einer Bahnspur zur nächsten zu bringen. Je nach Bedarf haben wir oft viele Stunden hintereinander hart gearbeitet.

Durch das Rote Kreuz erfuhr ich in Victoria, dass man meinen Vater und dessen Lebensgefährtin 1943 von Frankreich nach Auschwitz deportiert hatte. Das war alles, was ich in dieser Zeit über meine Verwandten erfahren konnte. [9]

In der australischen Uniform konnten wir uns dann relativ frei bewegen. Ich erinnere mich allerdings an ein Erlebnis, das mir den Antisemitismus – sogar in Australien – schmerzlich vor Augen führte. Ich fuhr in einem öffentlichen Verkehrsmittel, bekleidet war ich mit der australischen Uniform, als ein australischer Mitfahrender unschöne Bemerkungen machte. Ich erwiderte ihm: "Wenn Sie schon nicht Respekt vor mir haben, dann doch wenigstens vor der Uniform ..." Meinem Gefühl nach hatte ich mich gut gewehrt. Die Betroffenheit kam erst im Nachhinein. Letztendlich war ich ja doch ungeschützt.

Nach eineinhalb Jahren wurde ich aus gesundheitlichen Gründen – ich litt an Depressionen – als untauglich eingestuft und ehrenhaft aus dem australischen Heer entlassen. Nachdem ich frei war, versuchte ich als etwa 20-Jähriger in Melbourne Fuß zu fassen, was mir nicht wirklich gelang. Ich hatte einen Job in einer Weinfirma namens "Winn's Wines" bekommen, wo ich einmal mehr schwere Lasten schleppte. Wieder musste ich aus gesundheitlichen Gründen aufhören.

Nach dem Krieg: Sydney - London - Wien

1945 ging ich nach Sidney und lebte dort als Untermieter bei einem neuseeländischen Ehepaar. Ich dachte, das würde mir gut tun, und so arbeitete ich für einige Monate bei der Post und sortierte die Briefeingänge. Dann holte mich jedoch wieder eine tiefe Depression ein. Ich fiel sozusagen in ein Loch, in eine Art Lähmung. Man behandelte mich mit Elektroschocks und Valium – etwas anderes gab es damals nicht. Die Depressionen hatten schon in der Lager- und Armeezeit begonnen, aber nun waren sie besonders schlimm.

Da ich mich in Australien nicht einbürgern lassen wollte, wurde ich 1947 nach Großbritannien zurückgeschickt. Dass ich nach meiner Rückkehr nach London dort meine Tanten unversehrt antraf, war jedenfalls eine große Erleichterung für mich. Die Überraschung und Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten groß! Ich erinnere mich, dass ich mit dem Doppeldeckerbus durch London fuhr und all die Zerstörungen sah. Die Jahre hatten auch in meinem Inneren Spuren der Zerstörung hinterlassen. Ich war und blieb mit meinen 23 Jahren gesundheitlich dauerhaft angeschlagen. Die depressiven Verstimmungen kehrten immer wieder zurück. Im australischen Lager hatte die Aussichtslosigkeit zu einer Einstellung geführt, dass man "im Leben nichts mitbekommen hat", und dies trug zu meiner Resignation bei. Ich konnte auf mein Leben keinen Einfluss nehmen. Die Dinge passierten, und ich konnte sie nur geschehen lassen. Es gab auch niemanden, mit dem ich hätte reden können, und das führte mich in eine Art "innere Emigration", aus der ich nie ganz hinausfand.

1948 ging Kurt Flussmann für ein Jahr als Dolmetscher nach Deutschland. Im selben Jahr fand er seine Mutter wieder, die den Krieg in Belgien überlebt hatte. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1977 besuchte er sie dort immer wieder. 1952 verließ Kurt Flussmann Großbritannien endgültig. Ab 1952 heuerte er auf Frachtschiffen und Öltankern in Europa und Übersee an und arbeitete als Steward im Service. Die Wintermonate verbrachte er auf den Kanarischen Inseln. Das Seemannshaus "Scandia" in Antwerpen, in dem Kurt Flussmann immer wieder nach Seegängen wohnte, wurde aufgelassen und die Seefahrten waren damit 1961 beendet. Er kehrte im selben Jahr nach Österreich zurück, nachdem er von seiner einzigen Liebe "Shani", sie lebte auf La Palma, tief enttäuscht wurde. Er fuhr nie wieder dorthin zurück.

Auch in Wien kannte ich niemanden. Ich war ja schon als junger Bursche weggegangen. Ich blieb, egal wohin ich ging, heimatlos und entwurzelt. Das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören, blieb. Wie in meiner Kinderzeit ...

Rückschau

Heute, als kranker alter Mann, muss ich sagen, dass ich mein Leben als ein schwieriges Unternehmen erfahren habe. Ich konnte niemals entspannt Entscheidungen treffen, war existentiell immer unter Zugzwang, und meine Möglichkeiten blieben eingeschränkt. Auf diesem Hintergrund hatte ich aufgehört Pläne zu machen. Es war ein Leben von Jetzt auf Jetzt. Ein ständiges Über-Leben.

Immer wieder traf ich, Gott sei Dank, auf Menschen, die meine Geschichte berührte und die mir schließlich weiterhalfen. Aber ich blieb auf jegliche Hilfe angewiesen – bis zum heutigen Tag.

Auch heute, im Rückblick betrachtet, glaube ich nicht, dass ich es hätte anders machen können. "Der Karren war so verfahren", dass ich ihn nur irgendwie bewegen konnte. Es war ein verpfuschtes Leben. So empfinde ich es heute ...

Dennoch. Der Herrgott war gnädig zu mir. Er hat mir die ganze Welt gezeigt: Ich war in Russland, Amerika, Kanada. In Südamerika, Brasilien und habe noch vieles andere gesehen. Angst und Druck blieben jedoch überall meine ständigen Begleiter. Prof. Hamburger, mein Amsterdamer Arzt, sagte einmal zu mir: "Den Stacheldraht im Kopf werden Sie nie los werden ..."

Seit 1981 lebt Kurt Flussmann im Sanatorium Maimonides-Zentrum in Wien. Sein größter Wunsch ist es, noch einmal das Grab seiner Mutter in Putte (Belgien), die dort auf dem Jüdischen Friedhof "Frechie Stichting" begraben ist, zu besuchen.

Die Lebensgeschichte von Kurt Flussmann wurde im Zuge der psychotherapeutischen Arbeit von Frau Franziska Berger vom Consiliar-Liaison-Team des Psychosozialen Zentrums ESRA in Wien aufgezeichnet. Die hier veröffentlichte Kurzfassung wurde darauf basierend vom Redaktionsteam des Nationalfonds zusammengestellt.

Weitere Informationen zur Arbeit von ESRA finden Sie auf der Homepage von ESRA.

Dieser Artikel wurde auch veröffentlicht in: Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus. Wien, 2010, Seite 136-145.

[1] Von Dezember 1938 bis September 1939 flüchteten rund 10.000 jüdische Kinder und Jugendliche aus dem Deutschen Reich mit so genannten Kindertransporten nach Großbritannien.
[2] Das Küstenstädtchen Hoek van Holland ist heute ein Stadtteil von Rotterdam.
[3] Nachdem bereits kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges deutsche Staatsangehörige auf britischem Staatsgebiet – obwohl in der Mehrzahl jüdische Emigrantinnen und Emigranten, die vor dem NS-Regime geflohen waren – von Großbritannien zu "enemy aliens" erklärt und interniert worden waren, verschärfte sich im Frühjahr 1940 diese Vorgehensweise im Zuge der "Blitzkriege" der Deutschen Wehrmacht in Westeuropa. Das größte Internierungslager befand sich auf der Isle of Man.
[4] Insgesamt befanden sich über 2.500 Internierte auf der Dunera, davon mehr als 2.000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich und rund 450 deutsche und – als Verbündete des Deutschen Reiches ebenfalls internierte – italienische Kriegsgefangene.
[5] Bei dem erwähnten Schiff handelt es sich um die "Arandora Star", die am 2. Juli 1940 mit über 1.600 Personen an Bord – davon mehr als 1.200 deutsche und italienische "enemy aliens" – auf dem Weg in ein kanadisches Internierungslager von einem deutschen U-Boot versenkt wurde. Über 800 Menschen kamen dabei ums Leben.
[6] Neben den so genannten "Dunera boys" wurden auch deutsche, italienische und japanische Kriegsgefangene und Zivilinternierte im Lagerkomplex nahe dem Provinzstädtchen Hay inhaftiert.
[7] Noch im Jahr 1940 änderte Großbritannien seine Haltung zu "enemy aliens", und schrittweise wurde die Internierung von ausländischen Zivilpersonen beendet.
[8] Die Stadt Albury liegt im australischen Bundesstaat New South Wales, an der Grenze zum Bundesstaat Victoria.
[9] Der Vater von Kurt Flussmann wurde in Auschwitz ermordet.