Viktoria Grassi

Die Wahrheit

Viktoria Grassi wurde 1939 in Klagenfurt geboren. Sie lebte mit ihren Eltern und Geschwistern in einem Wohnwagen. 1941 wurde sie ihren leiblichen Eltern weggenommen und kam zu einer Pflegefamilie. Ihre Eltern kamen in Konzentrationslager, der Vater von Frau Grassi überlebte den Holocaust nicht.

Schwarz-weiß Foto: zwei Wohnwägen stehen in einer Sandgrube.
Wohnwägen in einer Sandgrube bei Schwechat, um 1930. (c) ÖNB

Den Wohnsitz meiner Eltern, den weiß ich nicht, aber der Aufenthalt war immer in Österreich. Mein Vater war gelernter Spengler. Er machte Reparaturen auf den Bauernhöfen, und meine Mutter und meine Geschwister waren alle mit, und so zog meine Familie durch Österreich und hatte daher keinen festen Wohnsitz.

Meine Eltern kamen dann beide aufgrund des Vorwurfs der "Asozialität" [1] ins Lager. Mein Vater kam 1941 nach Deutschland, wo er 1942 verstarb. Meine Mutter kam 1942 nach Auschwitz. Ihre KZ-Nummer lautete 55555.

1941 kam ich zu einer Pflegefamilie. Ja, so wie es dann im Krieg so weitergeht mit der Not; auch viele Krankheiten habe ich gehabt. Es war ja auch keine gute Behandlung. Ein fremdes Kind hat es meist nicht schön auf einem Kostplatz. Ich habe bald gelernt, vieles zu tun, weil meine Pflegemutter krank wurde. Da musste ich schon im Hause mithelfen, so gut ich konnte, und wehe, man machte die Arbeit nicht richtig, dann wurde ich bestraft. Man sperrte mich in den Keller, und da hatte ich viel Angst, oder ich wurde im Bett angebunden. Das sind Dinge, die man nicht so schnell oder überhaupt nicht vergessen kann. Und später wurde ich in ein Waisenhaus abgegeben, in Klagenfurt bei den Ursulinen, bis zur Rückkehr meiner Mutter.

1943, als ich vier Jahre alt war, bekam ich eine schwere Mittelohrentzündung, worauf ich schwerhörig wurde. Das bereitete mir sehr viele Probleme in der Schule und auch im weiteren Leben.

Alles, was ich hier geschrieben habe, ist die Wahrheit.

[1] Gemäß dem Erlass über die "vorbeugende Verbrechensbekämpfung" vom 14. Dezember 1937 konnte eine zeitlich unbegrenzte "Vorbeugehaft" gegen "Berufs- und Gewohnheitsverbrecher" wie auch gegen Personen verhängt werden, die durch ihr "asoziales Verhalten die Allgemeinheit" gefährdeten. Als "asozial" definiert wurde, "wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, daß er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will", d.h. "z.B. Bettler, Landstreicher (Zigeuner), Dirnen, Trunksüchtige, mit ansteckenden Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten behaftete Personen, die sich den Maßnahmen der Gesundheitsbehörden entziehen"; außerdem jene, die der Arbeitspflicht nicht nachkamen und der Öffentlichkeit "zur Last" fielen, "z.B. Arbeitsscheue, Arbeitsverweigerer". Im Zuge der Verfolgung dieser als asozial kategorisierten Personengruppen wurden Zehntausende Menschen in den NS-Konzentrationslagern ermordet oder kamen bei der Zwangsarbeit ums Leben.