Alfred Wagner

Jugend hatte ich keine

Ich wurde im Kriegsjahr 1943 in Wien unehelich geboren. Meine Eltern - mein Vater war Jude - konnten damals nicht heiraten, und so wurde die Ehe erst 1945 nach dem Krieg geschlossen.

Die Hitlerzeit mit den Schrecken des Zweiten Weltkrieges hatte ich als unerwünschtes Kriegs- und Kellerkind [1] überlebt. Durch die furchtbaren Lebensbedingungen sowie durch Licht- und Vitaminmangel erkrankte ich im Säuglingsalter an Rachitis. Die Folgen waren eine Deformation der Knochen – eine Verkrümmung der Wirbelsäule und ein etwas deformierter Brustkorb, ein so genannter "rachitischer Rosenkranz" – und eine allgemeine Entwicklungsstörung (Spätentwicklung). Ich bekam gegen meine Rachitis zwar Lebertran aus der Flasche, doch leider zu spät. Das alles sollte mir das Leben einmal noch sehr schwer machen. Beim Schreiben mit der rechten Hand habe ich zum Beispiel Schwierigkeiten, da ich die Hand nicht richtig halten kann und wofür ich früher oft ausgelacht wurde.

Es mag schon sein, dass man als Kind, wie manche meinen, ohnehin davon nichts verstanden hat. Trotzdem bekommt man auch als Kind die Bedrohung einprägsam zu spüren: Die SS auf der einen Seite, welche die Leute mit einer Tafel um den Hals ("Ich hänge hier, weil ich nicht an Adolf Hitler glaubte") an den Laternenpfählen öffentlich aufhängte, und die Bomben andererseits, die auf die "Festung Wien" geworfen wurden. Die Angst der Eltern sollte sich nicht auf die Kinder auswirken? Die riesigen Flaktürme in Wien erinnern noch heute an den Tod aus der Luft.

Die Nachkriegszeit war für mich ganz besonders traurig. Meine Eltern und ich bekamen einen Ausweis als Naziterror-Opfer [2], aber davon hatten wir nicht viel. Zwar hatten meine Eltern gleich nach dem Krieg geheiratet, doch war mein Vater infolge der Umstände in der Nazizeit arbeitsunfähig, und auch meiner Mutter ging es nicht gut. Für ein Kind wie mich eine furchtbare Situation. Wir lebten von der Fürsorge mehr schlecht wie recht. In der Wohnung im 15. Bezirk, die noch von den verstorbenen Eltern meiner Mutter stammte, gab es keinen elektrischen Strom. In der Schule war ich der Einzige, der am Abend zu Hause bei einer Petroleumlampe seine Schulaufgaben machen musste.

Damals war ich ziemlich unterernährt, und im Winter wurde auch bei großer Kälte oft nicht geheizt. Meine gesundheitlich schwer angeschlagenen Eltern waren auch gar nicht in der Verfassung, mich richtig zu versorgen und zu erziehen. Dadurch hatte ich es in der Schule sehr schwer. Ich war durch die schlimmen Verhältnisse einfach in meiner Entwicklung zurück und wurde dazu noch von den Leuten ausgelacht. Bemerkungen wie "Der muss dem Hitler durch den Rost gefallen sein" und andere Sticheleien hörte ich nicht selten.

Nach der Hauptschulzeit wollte ich als Mechanikerlehrling arbeiten. Doch bei der Berufsberatung wurde mir gesagt, dass ich dazu leider viel zu schwach sei. Da man mich nach einem Test als überdurchschnittlich intelligent einstufte, wurde ich als kaufmännischer Lehrling vermittelt. Doch leider musste ich die Lehre wegen totaler Erschöpfung bald abbrechen. Ich war verzweifelt und bekam auch noch schwere Depressionen und Angstzustände. Mir blieb jetzt gar nichts anderes übrig als mich ärztlich behandeln zu lassen. In meinem Zustand konnte ich leider unmöglich arbeiten. "Herr Doktor bitte machen Sie mich gesund", flehte ich damals, denn bei den tristen Verhältnissen zu Hause bei meinen invaliden Eltern konnte ich es mir nicht leisten daheim zu bleiben. Also wurde ich zuerst einmal als Wiener an die Nervenheilanstalt "Am Rosenhügel" überwiesen und dort längere Zeit stationär behandelt.

In der Nervenheilanstalt wurde versucht, mich von meinem Nervenzusammenbruch zu heilen. Zuerst mit einer längeren Insulinschock-Therapie. Der Arzt spritzt dabei täglich eine Überdosis Insulin. Darauf fällt man unter furchtbaren Krämpfen ins Koma. So eine Art "Neustart" wie heute bei einem Computer. Da es mir nach längerer Zeit noch immer schlecht ging, wurde schließlich eine Elektroschock-Therapie ("Werden wir halt das Hirn mit dem Strom durchputzen") versucht.

Nach meiner Entlassung aus der Nervenheilanstalt arbeitete ich dann als angelernte Bürokraft. Ich war schon zu lange krank gewesen und musste endlich Geld verdienen. Durch Selbststudium und Kurse konnte ich mich gut einarbeiten. Freilich nur mit großer Anstrengung, da ich schnell müde wurde.

In meiner Freizeit war ich froh, wenn ich zur Erholung einsame Wanderungen zuerst im Wienerwald, später auch in den Bergen machen konnte. Der Grund, warum ich immer allein ging, war auch unter anderem, weil ich mit dem Tempo anderer Wanderer nicht mithalten konnte und ich nicht ausgelacht und verspottet werden wollte. Auf Gespräche konnte ich ohnehin verzichten. Damals waren Thema Nr. 1 die Kriegserlebnisse, Hitler und der Feind – die Juden. Schuld war immer "der Jid – der Dieb". Auch die dauernden antisemitischen Sticheleien mir gegenüber ("Der hat eine Nase wie ein Synagogenschlüssel") fand ich nicht witzig. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Mir blieb auch wirklich nichts erspart.

Die "Waldheimzeit" mit dem offenen, ungenierten Antisemitismus der Leute werde ich nie vergessen, schon gar nicht als ehemaliges Naziterror-Opfer. Über Nacht wurde ich ein Fremder in der eigenen Stadt, welchen man ungeniert öffentlich beschimpfen und bedrohen konnte. Und plötzlich waren sie wieder da, die älteren Herren in ihren Lederhosen aus der Zeit der Nazibewegung. Ich sehe sie heute noch im Geist vor mir "Am Graben" in Wien gehen, ganz keck, demonstrativ und herausfordernd. Damals ist etwas in mir für immer zerbrochen.

Zur Illustrierung, wie ich die "Waldheimzeit" erlebte, möchte ich einige ganz wenige Erlebnisse anführen.

Eines Tages machte ich einen Ausflug mit der Bahn in den Wienerwald. Nach längerer Fußwanderung setzte ich mich erschöpft in den Garten eines Gasthauses. Neben mir hing an einer Stange ein Käfig mit einem Papagei. Der Wirt, der mich schon von früher kannte, kam herbei, stellte sich vor den Käfig und machte mit dem Vogel ungeniert vor allen Gästen folgende Sprechübungen: "Saujud – Saujud – Saujud – Saujud – Saujud."

Ein anderes Mal ging ich in Wien in der Mariahilfer Straße zu einem Zahnarzt. Auf einer großen Tafel stand auch noch Medizinalrat. Ich hatte Schmerzen, und ein Zahn musste plombiert werden. Der Herr Medizinalrat bohrte bei mir einen Zahn auf. Plötzlich unvermittelt, während er noch bohrte, fragte er mich mit drohender Stimme zynisch: "San Sie a Jud?" (Sind Sie ein Jude?) Seine junge Assistentin neben ihm lachte hell auf und murmelte dabei schlimme antisemitische Worte und setzte hinzu: "Mörder, Diebe." Ich war, weil gerade am Zahn gebohrt wurde, aber auch vor Überraschung, sprachlos. Den Herrn Medizinalrat fand ich gar nicht witzig. Nach der Behandlung bin ich stumm gegangen und nicht wieder gekommen.

Ein sehr unangenehmes Erlebnis hatte ich auch in einem Gasthaus in Wien, wo ich seit vielen Jahren Stammgast war. Nicht täglich, aber doch regelmäßig ging ich dort essen. In einem gemütlichen Biergarten schmeckt einem das Essen einfach besser. Beim Trinkgeld war ich immer großzügig – leben und leben lassen. Gewohnheitsmäßig gehe ich immer nach der Bezahlung auf die Toilette, die sich vorne im Garten befindet. Das Folgende hatte ich noch in keinem Lokal erlebt: Da schlug jemand wüst mit der Faust draußen an die Tür, und ich hörte eine rauhe Männerstimme grölen: "Juda verrecke – Juda verrecke – Juda verrecke." Ich hatte gerade die Hose unten und konnte daher nicht gleich öffnen. Sehr komisch: Als ich dann aufmachte, stand niemand vor der Tür.

Am Anfang dachte ich, das sei sicher ein betrunkener Gast und reiner Zufall gewesen. Als sich aber das Spiel bei jedem Besuch immer wiederholte und ich dann auch in der Stimme einen wahrscheinlich aufgehetzten Knecht des Gasthofes erkannte, konnte ich nicht mehr an Trunkenheit und Zufall glauben. Allein und müde geworden, bin ich der Sache nicht weiter nachgegangen. Wahrscheinlich sollte ich vor den anderen Gästen im Garten diskriminiert werden. Der gemeine Kerl wurde wahrscheinlich für diesen "Spaß" noch mit einem Trinkgeld belohnt. Dort schmeckt mir jedenfalls kein Essen mehr. Dieser Gasthof hat einen alten und stillen Stammgast für immer verloren.

Heute lebe ich ganz allein und sehr zurückgezogen, in innerer Emigration, und versuche, bei einsamen Bergwanderungen zu vergessen.

Dem möchte ich nichts hinzufügen, wenn ich auch noch sehr viel zu berichten hätte, und schließe mit einem Gedicht von Heinrich Heine:

Manchmal wollt´ ich fast verzagen,
Und ich glaubt´ ich trüg´ es nie.
Und ich hab´es doch getragen,
Aber fragt mich nur nicht wie.

[1] Nach dem "Anschluss" an das Deutsche Reich im März 1938 wurden in Österreich die so genannten Nürnberger Rassengesetze von 1935 eingeführt. Ein Teil davon war das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", das die Eheschließung, aber auch den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden verbot. Entsprechend der NS-Ideologie war Herr Wagner als uneheliches Kind eines jüdischen Vaters und einer "arischen" Mutter gefährdet. Aus diesem Grund und um ihn vor Verfolgung zu schützen, wurde er von seinen Eltern als Säugling versteckt.
[2] Alfred Wagners Vater war gelernter Installateur, konnte aufgrund seiner Religion während des Krieges aber nur Hilfstätigkeiten verrichten. Er wurde für "wehr- und berufsunwürdig" befunden, gedemütigt und schikaniert. Über die näheren Umstände seiner Verfolgung wurde zu Hause fast nie gesprochen.