Ernst Otto Allerhand

Ein fremdes, fernes, unbekanntes Land

Ernst Otto Allerhand wurde am 1. Oktober 1923 in Wien geboren. Sein Vater war Rechtsanwalt und wurde im November 1938 verhaftet und ins Konzentrationslager nach Dachau deportiert. Familie Allerhand konnte 1939 nach Bolivien emigrieren. Heute lebt Ernst Otto Allerhand in Argentinien.

 

Seit Geburt wohnte ich zusammen mit meinen Eltern in Wien, Albertgasse 55, Tür 14. Ich ging in der Albertgasse sowohl in die Volksschule wie auch nachher ins RG VIII, später Robert-Hammerling-Realgymnasium genannt.

Als Jude verlor ich im März 1938 alle Rechte. Nach der Besetzung Österreichs durch die Nazis musste ich mein Gymnasialstudium zwangsweise unterbrechen. Als Jude konnte man nicht weiterstudieren.

Meinem Vater, Dr. Karl Ludwig Allerhand, damals Rechtsanwalt in Wien, wurde die Ausübung seines Berufs verboten. Er durfte nicht mehr arbeiten. In der Kristallnacht [1], vom 9. auf den 10. November 1938, wurde mein Vater, wie viele Glaubensgenossen, auf der Straße verhaftet, in die Karajangasse [2] gebracht und von dort ins KZ nach Dachau verschleppt. In derselben Nacht wurden wir gewaltsam delogiert. Um 3 Uhr Früh zwang man uns – meine Mutter, meinen kranken Großvater und mich –, die Wohnung sofort zu verlassen, und man gab uns eine knappe Stunde Zeit, um die nötigsten Sachen wie z.B. Matratzen in ein einziges Zimmer zu schleppen, welches uns zwei Stock tiefer bei einer anderen jüdischen Familie angewiesen wurde. Alle jüdischen Mieter des Hauses wurden in einer einzigen Wohnung zusammengepfercht, jede Familie in einem Zimmer. Unsere Wohnung wurde versiegelt.

Auf der Gestapo sagte man meiner Mutter, wenn sie ihren Mann noch lebend sehen wollte, so soll sie sich beeilen und schnellstens ein Visum und auch Fahrkarten besorgen für uns alle. Dann könnte er eventuell aus dem KZ entlassen werden. Wir hatten zum Glück Verwandte im Ausland. Zu dieser Zeit gab es nur noch die Wahl zwischen Schanghai und Bolivien. Wir konnten diese Papiere binnen eines Monats beschaffen. Hierauf wurde jedoch mein Vater noch weitere zwei Monate gequält, und wir mit ihm, bis er seine Freiheit erlangte. Als er an der Tür läutete, konnte ich ihn nicht erkennen, er war nur noch ein Skelett. Unsere Wohnung wurde wieder aufgeschlossen.

Im April 1939 bestiegen wir das Schiff nach Bolivien, ein Land, das den wenigstens auch nur auf der Landkarte bekannt war, ein in jeder Hinsicht fremdes, fernes, unbekanntes Land. Ohne Kapital, ohne Beruf. Wir mussten alle Wertsachen zurücklassen, durften nur 10,– Reichsmark pro Person mitnehmen, nicht einmal ein Ring war erlaubt. 10,– Mark Landungsgeld war unser Besitz. Alles Gold und Silber blieb zurück, von Einrichtung ganz zu schweigen.

Meine Eltern mussten am Anfang, damit wir etwas zu essen hatten, von der guten Tisch- und Bettwäsche verkaufen. Nachher schlugen sie sich recht und schlecht damit durch, dass meine Mutter Marmelade kochte und mein Vater diese verkaufte. Für mich jungen Menschen damals war es leichter, nach gewisser Zeit mich als Angestellter zu beschäftigen und meinen Eltern zu helfen. Nach vielen Jahren des Darbens, sogar Hungerns, konnten sich meine Eltern, auch mit meiner Hilfe, eine menschenwürdige Situation schaffen.

Bereits 1950 verstarb Flora Allerhand, die Mutter von Ernst Otto Allerhand. Ihr früher Tod war vermutlich eine Folge der Aufregungen und der Umstellung. 1970 verstarb sein Vater, und etwas später verließ Ernst Otto Allerhand mit seiner Familie Bolivien. Seither lebt er in Argentinien.

[1] Als "Reichskristallnacht" wurde der Pogrom gegen Jüdinnen und Juden auf deutschem Reichsgebiet in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 bezeichnet. Der Name leitet sich von den zahlreichen Fensterscheiben, die im Zuge dieser Nacht zerstört wurden, ab. Neben der Plünderung, Zerstörung und Beschlagnahmung von jüdischen Geschäften, Wohnungen, Synagogen und Bethäusern wurden tausende Jüdinnen und Juden verhaftet und zum Teil in Konzentrationslager deportiert, wo viele von ihnen ermordet wurden.
[2] In der ehemaligen Volksschule in der Karajangasse Nr. 14 im 20. Wiener Gemeindebezirk war im März 1938 ein Gestapogefängnis eingerichtet worden.