Felice Mathur

I guess I was very lucky!

Frau Mathur wurde 1920 in Wien geboren und wuchs in guten Verhältnissen in einem behüteten Zuhause auf. Ihr Vater war Jude. Im März 1938 wurde sie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung vom Schulbesuch ausgeschlossen. 1939 musste sie als Hausgehilfin nach Großbritannien flüchten. Ihr Vater und ihre jüngere Schwester Grete kamen im Holocaust ums Leben. Frau Mathur lebt heute in Indien. Der folgende Text ist eine Zusammenstellung aus Briefen von Felice Mathur an den Nationalfonds.

Ich danke Ihnen besonders für Ihr Interesse, Opfern des National- sozialismus behilflich zu sein. Ich glaube, ich hatte in meinem früheren Schreiben schon erwähnt, dass es meinen Eltern finanziell recht gut ging. Meine Mutter war eine richtige Sammlerin, noch als meine jüngere Schwester und ich Kleinkinder waren, sammelte sie schon für unsere "Ausstattung" – Perserteppiche, Silber, etc. Wir hatten in unserer Wohnung schöne Gemälde, antike Möbel und insbesondere eine gute Bibliothek – alle Klassiker in Leder gebunden, eine enorme Bibel (in Leder), handgeschrieben und mit viel Gold bemalt. Ich war sehr jung und schätzte dies alles nicht – es war eben alles da – Kinderfräulein, Köchin, Auto mit Chauffeur – I guess I was very lucky! Da ich ja von 1939 an elf Jahre lang in England war und ich mir irgendwie eine Existenz aufbauen musste, dachte ich nicht an Entschädigungen und wusste auch nichts darüber. Und seit 1950 bin ich in Indien, also so weit weg von allem ...

Ich wohnte in Wien im 3. Bezirk bis zu meiner Emigration Ende Mai 1939 – davon über ein Jahr under occupation. Im März 1938 musste ich das Realgymnasium, die siebte Klasse, wegen meiner jüdischen Religion verlassen. In normalen Zeiten hätte ich weiterstudiert nach der Matura – die Universität besucht. So musste ich also die Schule unterbrechen und im April 1939 nach England als "domestic servant" auswandern. Natürlich hatte ich dann kein Geld, um dort zu studieren. Daher konnte ich nie einen guten Beruf erlernen. Vor meiner Auswanderung half ich für zirka drei bis vier Monate meinem angeheirateten Onkel, der Zahntechniker war, um beschäftigt zu sein. Mein Vater wurde Anfang April 1938 nach Dachau geschickt – er war Kaufmann und hatte einige Fleischgeschäfte, die ihm sofort weggenommen wurden, wie auch unser Auto und unser Lastwagen. Wir lebten vom Verkauf von Schmuck und Teppichen, später, nach meiner Auswanderung nach England (als Hausgehilfin), verschwanden mein Vater und meine jüngere Schwester in Polen. Meine Mutter, die "Arierin" war, starb an Krebs während des Krieges.

Als ich nach England kam, war ich noch nicht einmal 19 Jahre alt, hatte nur zehn Reichsmark und keine Wertsachen mit und konnte nicht sehr gut Englisch. Bis zu meinem 18. Lebensjahr hatte ich ein "Fräulein", war also sehr behütet erzogen worden.

Ich war viel zu jung, als ich Wien verließ im Jahr 1939, alles Materielle interessierte mich einfach überhaupt nicht – und so ist es auch noch heute.

Was ich aber wissen möchte, ist, wo, wann und wie mein Vater gestorben ist, und meine jüngere Schwester, Greta Spiegel (ermordet in Auschwitz?) – und das habe ich leider niemals erfahren – suchte beim Roten Kreuz an – nichts [1]. Und das ist es, was mir im Leben fehlte – nicht der blöde Schmuck, die Perser- teppiche, die Bilder.

Ich lebe seit 1950 in Südindien, 1956 verließ ich meinen indischen Mann und lebe seit dieser Zeit alleine. Und jetzt [2] bin ich fast 81 Jahre alt und bin total alleine – habe keine Kinder – niemanden. Kein Mensch würde sich jemals über etwaigen Nachlass kümmern.

Die Erstveröffentlichung dieses Textes erfolgte im Rahmen des Artikels von Renate S. Meissner, "Entheimatet". Erinnertes Leben – erzähltes Gedächtnis aus fünf Kontinenten. In: Institut für Geschichte der Juden in Österreich (Hg.), Juden in Mitteleuropa, Ausgabe 2006, S. 67–78.

[1] Auch die zusätzlichen Recherchen des Nationalfonds blieben erfolglos.
[2] Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Briefes im Jahr 2001, Anm. d. Red.