Friedrich Josef Holm

...um nicht als Wiener erkannt zu werden

Am 13. Juni 1939 musste ich als 14-Jähriger aus rassischen Gründen Österreich verlassen. Ich hatte das Glück, mit dem letzten Kindertransport (ca. 600 Kinder) nach England zu gelangen. In England kam ich nach Lancashire in ein Waisenhaus, von dem aus ich zu Feldarbeiten bei einem Farmer in Yorkshire eingestellt wurde. Im April 1940 kam ich durch Fürsprache eines Mr. Brown, der sich sehr für emigrierte Kinder einsetzte, zu den Fordwerken als Lehrling. Januar 1942 meldete ich mich als Freiwilliger in die britische Armee.

Als sich Herr Holm im Alter von 17 Jahren freiwillig als Rekrut meldete, war er dafür zu jung und wurde wieder weggeschickt. An anderer Stelle probierte er es noch einmal und gab sich um ein Jahr älter aus. Da er noch nicht so gut Englisch lesen konnte, war ihm nicht bewusst, dass er sich für zwölf Jahre verpflichtete. 1950 wurden ihm die letzten Jahre geschenkt – sonst hätte er möglicherweise auch im Koreakrieg noch kämpfen müssen. Als Sergeant Major war er die rechte Hand des Colonels (Regimentschef). Er wurde befördert, nachdem der Colonel erfahren hatte, dass er Wiener war. Ursprünglich hatte Herr Holm angegeben, er sei Schotte.

Die Spezialeinheit, der Herr Holm angehörte, die 6th Seaforth Highlanders, bestand aus 1001 Mann – der letzte Mann steht für den Sergeant Major. Offizieller Oberbefehlshaber des Regiments war Prinz Philip. Die Geschichte besagt, dass der Leitspruch "Cuidich'n Rich" für "Rettet den König" steht, der gerettet wurde, nachdem er von einem Hirsch angegriffen worden war. Die Uniform besteht aus dem Glengarry - einer Mütze mit diesem Leitspruch und einem Hirsch als Symbol - und dem Plaid - einer Schärpe mit Orden.

Nach sechs Wochen Grundausbildung kam ich mit einem schottischen Infanterie-Regiment nach Afrika zum Einsatz. Nach Beendigung des Afrikafeldzuges wurde meine Einheit der 5. US-Army zugeteilt. Diese machte die Landungen in Sizilien, Italien, Monte Cassino und Anzio mit. In Anzio, wo eine der blutigsten Schlachten stattfand, kam ich am 31. Mai 1944 mit meiner gesamten Kompanie in deutsche Kriegsgefangenschaft. Bei der Gefangennahme konnte ich geistesgegenwärtig mein Soldbuch mit dem Namen F. J. Holm, österreichischer Staatsbürger, im morastigen Erdboden eintreten. Es waren viele Österreicher, insbesondere Wiener, unter den deutschen Soldaten. Im Besitz des Soldbuches zu sein, hätte einigen noch in Österreich lebenden Verwandten sicher das Leben gekostet. Nur meine Uhr wurde mir abgenommen, ich bekam eine Quittung von einem "Wiener Hauptmann Kühn". Ich gab den in England häufig vorkommenden Namen "Frank Jones" an, um nicht als Wiener erkannt zu werden. Unter diesem Namen durfte ich dann weiter in der britischen Armee dienen.

Nach 21-tägigem Marsch ohne geringste Verpflegung und menschliche Behandlung (wir wurden geschlagen und getreten von den deutschen Soldaten, die wir abwechselnd zu tragen hatten) überlebten nur drei englische Soldaten; einer von ihnen war ich. Wir drei konnten am 21. Juni, meinem 20. Geburtstag, flüchten, als der deutsche Konvoi mit den englischen Gefangenen von einer Spitfire angegriffen wurde.

Die Geflohenen konnten sich in einem Turnsaal verstecken, wo sie sich aufhielten, bis ein kleiner Bub klopfte und sagte: "Tedeschi gone…" ("Die Deutschen sind weg…") In der Dämmerung folgten sie einer jungen Frau, die sie vom Turnsaal durch einen Tunnel in eine große Höhle führte, wo sich nur Frauen und Kinder aufhielten. Die Frau wies ihnen den Weg, dem sie folgen sollten.

In dieser Richtung konnten wir uns zur 6. Südafrikanischen Division durchgeschlagen. Hier erfuhren wir dann mit Gewissheit, dass alle übrigen Kameraden unserer Kompanie infolge von Entbehrungen oder Erschießungen einen traurigen Heldentod gestorben waren.

In Neapel wurden die Männer neu eingekleidet und in Bari stießen sie wieder auf ihr eigenes Regiment.

Es handelte sich bei Herrn Holms Regiment um eine Spezialeinheit, die überall dorthin geschickt worden ist, wo – wie er es ausdrückt – "etwas los war". Mit 60.000 deutschen Kriegsgefangenen in Gewahrsam kamen sie nach Kairo. Die Deutschen blieben dort im Kriegsgefangenenlager. Von Kairo aus ging es für Herrn Holms Regiment weiter über den Irak in den Iran (das damalige Persien), wo General Zahedi, der angeblich gemeinsam mit den Deutschen gegen die Engländer kämpften wollte, entwaffnet, verhaftet und der sowjetischen Armee übergeben worden war. In Haifa wartete das Regiment gemeinsam mit den Amerikanern auf Landungsboote, die sie nach Frankreich bringen sollten. Auch Gurkhas, eine nepalesische Volksgruppe, hatten sich dem schottischen Regiment angeschlossen. In Haifa wurde an alle das Neue Testament verteilt – egal, ob es sich um Christen oder Juden handelte.

Unsere Einheit formierte sich in Palästina, und so machte ich die Invasion in Frankreich mit. Kämpfte dann durch Belgien, Holland und Deutschland bis Magdeburg. Wir konnten das KZ Bergen-Belsen befreien.

Am 15. April 1945 war Herr Holm mit seiner Einheit bei der Befreiung Bergen-Belsens mit dabei. Bereits 5 km vorher bemerkten sie starken Verwesungsgeruch. Es gab tausende Tote, und die meisten der Überlebenden waren abgemagert bis auf die Knochen. Herr Holm erinnert sich an eine Wärterin, die damals in allen Medien war – Marianne Koch, die angeblich Lagerhäftlingen Haut abgeschnitten haben soll, um daraus Lampenschirme und Zigarettendosen zu machen. Dazu soll sie die Hautstücke – viele mit Tätowierungen – aufgespannt und getrocknet haben. [1]

Bei Magdeburg trafen wir mit den Russen zusammen, die das Gebiet dann besetzten. Nach der Kapitulation  fungierte ich als Dolmetscher bei der Gefangennahme von Admiral Dönitz. Von 1945 bis 1950 war ich in der 11. Field Security Section. Unsere Aufgabe bestand darin, Kriegsverbrecher aufzuspüren. Unser größter Erfolg war die Verhaftung von Heinrich Himmler.

Im Mai 1945 war Herr Holm an der Verhaftung von Großadmiral Karl Dönitz, dem Nachfolger von Hitler als Reichspräsident, und Generaloberst Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtführungsstabes, in Flensburg beteiligt. Auf dem Weg nach Nürnberg machten sie Zwischenstation in der Krupp-Villa [2]. Auch Heinrich Himmler wurde in der Nähe von Hamburg verhaftet. Dönitz wurde später in das Gefängnis Berlin-Spandau gebracht, wo gerade sowjetische Soldaten ihren Dienst verrichteten. Herr Holm, der im Auftrag seines Colonels für Dönitz Zigaretten, Schokolade und Rasierzeug im amerikanischen Laden besorgt hatte, erhielt von Dönitz dessen goldene Uhr und einen Rubinring, da den Schmuck sonst die Sowjets genommen hätten.

Die letzten Monate meiner Dienstzeit war ich im Heimkehrerlager Friedland eingesetzt und hatte so zum Schluss doch noch eine befriedigende Aufgabe, nämlich den 300.000 deutschen und auch österreichischen Kriegsgefangenen die Heimkehr zu erleichtern bzw. in vielen Fällen überhaupt zu ermöglichen.

Bis 1950 war Herr Holm als Besatzungssoldat in Deutschland stationiert. 1947 war sein Regiment ein Jahr lang in Schottland als Ehrengarde der Queen, die "Queen's Own Highlanders", eingesetzt. [3] Danach kam er wieder nach Deutschland zurück zur Field Security Section.

1949 nahm ich meinen Geburtsnamen Friedrich Josef Holm wieder an. Am 3. Jänner 1950 rüstete ich ab und kam einige Monate später wieder nach Österreich. Bei meiner Heimkehr nach Österreich musste ich allerdings erfahren, dass all meine Verwandten im KZ ermordet worden waren, darunter die begnadete Sängerin Grete Holm, erste Gattin des Komponisten Prof. Robert Stolz.

Bis auf den Vater wurde Herrn Holms ganze Familie väterlicherseits  ermordet. Sein jüngster Bruder blieb in Österreich, sein Vater überlebte als U-Boot. Herrn Holms zweiter Bruder kam gleichzeitig mit ihm nach England, seine zwei Schwestern waren bereits zehn Monate vor ihm nach Schottland geflüchtet.

Eine außerordentlich niederschmetternde Erfahrung musste ich machen, als es darum ging, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Es waren wohl Arbeitsplätze frei, doch nach der jeweiligen Frage meiner vorherigen Tätigkeit bekam ich nicht nur 2- bis 3-mal ein "leider nein" zu hören – es ging monatelang so, bis ich einen Hilfsarbeiterplatz bekam. Die Arbeit musste ich sofort annehmen, da ich keine weitere Aufenthaltserlaubnis bekommen hätte.

Herr Holm war später als Taxifahrer und Chauffeur tätig.

Während des Krieges von 1939–1945 wurden mir folgende Auszeichnungen verliehen:

  • The 1939–1945 Star
  • The Italy Star
  • The France and Germany Star
  • The Defence Medal
  • The Victory Medal

Erst 1975 wurde mir meine österreichische Staatsbürgerschaft wieder zuerkannt. Am 3. April 1979 wurde mir vom Herrn Bundespräsidenten Dr. Kirchschläger im Rittersaal des Wiener Rathauses das Ehrenzeichen für Verdienste um die Befreiung Österreichs verliehen – am selben Tag wie Simon Wiesenthal und dem damaligen Polizeipräsidenten Holaubek.

Nach mehreren Operationen und schweren Erkrankungen, die er gut überstanden hatte, verbringt Herr Holm den Sommer immer in Tulln, wo er sich vor über 40 Jahren einen Baggersee gekauft hatte. Dort baute er in seinem Garten das Hauptquartier seines Regiments, "Fort George", nach. Er besitzt auch zwei Katzen, die er vor dem Ertränken gerettet hat. Seine kranke Frau betreute er vor ihrem Tod ein Jahr lang. Herr Holms Sohn, der in Deutschland geboren wurde, lebt in Wien ganz in seiner Nähe. Herr Holm ist außerdem Ehrenmitglied der Dudelsackgruppe Hörbranz.

Die kursiv gesetzten Passagen stammen von einem persönlichen Gespräch mit Herrn Holm bei sich zu Hause im Dezember 2009.

Dieser Artikel wurde auch veröffentlicht in: Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus, Band 2. Wien, 2012, Seite 78-85.

[1] Frau Koch hieß in Wirklichkeit Margarete Ilse Koch und war die Frau des Lagerkommandanten vom KZ Buchenwald, das bereits einige Tage vorher, am 11. April, von amerikanischen Truppen befreit worden war. Die Herstellung und der Besitz von Gegenständen aus Menschenhaut konnten ihr nie nachgewiesen werden, sie wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und beging 1967 im Gefängnis Selbstmord.
[2] Die "Villa Hügel" in Essen, das Wohn- und Repräsentationshaus der Industriellenfamilie Krupp, war 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht beschlagnahmt worden.
[3] Jedes Jahr stellt ein anderes schottisches Regiment die Ehrengarde der Queen.