Henriette Haas

Mein Leben, mein Schicksal!

Am 28. November 1936 schlossen mein Mann Paul und ich den Bund fürs Leben. Meine Schwiegereltern waren jüdischer Abstammung, somit natürlich auch mein Mann. Es waren hochanständige Menschen, auch mein Mann anständig, brav und arbeitsam. Wohnung hatten wir keine. Wir wohnten in einem Kabinett bei meinen Eltern, finster, mit Blick in einen Lichthof. Aber wir waren glücklich und trugen uns mit dem Gedanken, dass es einmal anders werden müsse, wir waren ja noch jung. Und tatsächlich wurde es anders, jedoch anders, als wir uns das gedacht hätten …

Mein Schwiegervater verstarb im Jahre 1936, noch vor unserer Hochzeit. Es blieb ihm viel erspart. Die Zeit kam langsam heran bis zum Krieg.

Am 16. Jänner 1939 kam mein erstes Kind, Arthur, zur Welt. Ich wurde während der Schwangerschaft in den 20. Wiener Gemeindebezirk in das Brigitta-Spital geschickt, wo ich alle vier Wochen zur Kontrolle musste. Der dortige Oberarzt, selbst Jude, ein außergewöhnlich feiner und tüchtiger Mensch, rief mich in sein Zimmer und sagte mir, sehr schonend natürlich: "Ich muss weg hier vom Spital, wo sie mich hinschicken, weiß ich nicht. Auch Sie können hier nicht entbinden." Ich glaubte, nicht recht zu hören. Er sagte mir dann: "Aber ich habe hier einen Brief für den ersten Assistenten auf der Klinik im AKH", an den Namen des Arztes kann ich mich nicht mehr recht erinnern. Ich fuhr sofort hin und habe auch den Herrn Doktor erreicht, gab ihm den Brief und wurde sofort aufgenommen. Er sagte: "Reden Sie mit niemandem, wer Sie sind und von wo Sie kommen." Es gab noch Menschen mit Herz in so einer Situation. Am 16. Jänner 1939 war es dann so weit, mein Sohn Arthur erblickte das Licht der Welt. Ohne Komplikationen, wir waren Gott sei Dank beide wohlauf. Ich war in den besten Händen. Mein Sohn wurde gleich im Spital mit anderen Kindern getauft. Das Glück war sozusagen perfekt. Wir wussten ja nicht, was noch alles kommen würde.

Als mein Sohn Arthur zwei Jahre alt war, bekam ich eine Vorladung dorthin, wo mein Kind getauft wurde, in die Alser Straße. Ein etwa 17-jähriger Lümmel kam auf mich zu und nahm mir die Karte ab. Er sagte zu mir: "Wie heißen Sie?" Ich sagte: "Das steht auf der Karte." Er sagte: "Was? Sie heißen Henriette? Ab heute heißen Sie Sara, und das Kind heißt Israel, so wie Ihr Gatte." [1] "Mein Mann heißt Paul", war meine Antwort. "Kusch!", war seine. Ich war wie gelähmt. "Sie haben am 28. November 1936 geheiratet, und laut Nürnberger Rassengesetz – das ist ein Stichtag – seid ihr Saujuden!", schrie er. [2] Ich bekam einen Weinkrampf.

Nun kam Schlag auf Schlag. Mein Mann musste sich einmal pro Woche bei der Polizei melden, dort wurde er registriert. Ich musste mit meinem Sohn auch einmal melden gehen und musste für ihn unterschreiben, als Mutter, dass er auch wirklich da war. Wir durften auf keinen Fall das Land verlassen. Auch mussten wir uns alle drei fotografieren lassen: Das Gesicht von vorn und im Profil, ob wir jüdisch aussehen – es hieß natürlich: Ja! Wir bekamen eine Nummer wie die Verbrecher. Es war zermürbend!

Das Volk musste hungern, hatte fast nichts zu essen, aber wir bekamen gar nichts! Wir hatten zwar Lebensmittelkarten, aber zum größten Teil wurde darauf alles gestrichen. Ich habe noch einige Exemplare aufgehoben, darauf kann man sehen, wie viel unsere Lebensmittelkarten wert waren. Die Seife – soweit man sie als Seife bezeichnen konnte – war gestrichen. Es handelte sich um eine so genannte Rifseife, man kann auch "Sandseife" dazu sagen. Das Kind bekam kein Gemüse, keine Naschereien, wenn diese zu Weihnachten ausgegeben wurden. Um das Stückchen Brot mussten wir in den zweiten Bezirk gehen. Wir gingen von der Herklotzgasse im 15. Bezirk bis in den zweiten Bezirk zu Fuß. Es war im Winter nach einem Bombenangriff. Natürlich, als wir hinkamen und unsere Karten herzeigten, hieß es: "Für Juden gibt's nichts mehr!" Wir traten halt wieder den Heimweg an. Das Kind hatte Hunger und wir nichts zu essen. Was kann wohl schmerzhafter sein, als einem hungernden Kind nicht einmal ein Stückchen Brot geben zu können. Meine Eltern halfen uns so gut es ging, aber sie hatten ja selber nichts. Mein Kind bekam keinen Bezugsschein, weder auf Schuhe noch irgendwelche Kleidungsstücke.

Ich wusste nicht mehr ein und aus. In meiner Verzweiflung suchte ich einen Rechtsanwalt auf. Ich dachte mir, vielleicht könnte er mir helfen, dass wenigstens mein Kind als "arischer Mischling" gilt. [3] Aber das war unmöglich. Es gab überhaupt keine Möglichkeit: "Gesetz ist Gesetz!" Ja, eine Möglichkeit gäbe es schon: Ich solle mich von meinem Mann scheiden lassen! Dann wäre aber mein Mann mitsamt dem Kind ausgehoben und abtransportiert worden, und ich hätte nie mehr etwas von ihnen gehört ... Nachdem aber auch ich bereits registriert war, wäre ich auch weggekommen. Aber wir haben beschlossen, auf jeden Fall beisammen zu bleiben. Wir haben uns abgesprochen. Sollte es so weit kommen, dass sie uns holen, war alles vorbereitet. Sie hätten uns haben können, aber nicht lebend. Man muss sich vorstellen, dem Tod so ins Auge sehen zu müssen! Die Angst, auf diese Weise zu sterben, war grenzenlos! Aber die Willenskraft, das gute Familienleben gaben mir die Kraft durchzuhalten.

Meine Schwiegereltern hatten ein Optikergeschäft mit Werkstätte in der Hütteldorfer Straße, welches die beiden Brüder meines Mannes nach dem Tod ihres Vaters 1936 weitergeführt hatten. Sie mussten raus aus dem Geschäft, welches einem "Arier" übertragen wurde, ohne dass sie etwas dafür bekamen. Man warf meine Schwiegermutter aus der Wohnung, ebenfalls ohne Entschädigung, nahm ihr die Schlüssel ab, und sie bekam eine Wohnmöglichkeit mit fünf anderen Familien. Sie bekam das Vorzimmer, musste auf einem Klappbett schlafen, hatte keine Kochgelegenheit und keine Möglichkeit zu körperlicher Pflege. Mein Schwager Hans, der eine Bruder meines Mannes, hatte die Bewilligung, nach Israel auszuwandern. Er wartete auf einem Schiff in Jugoslawien auf den Transport nach Israel. Das war im Jahre 1941, als die Deutschen einmarschierten. Das Schiff verschwand über Nacht. Alle wurden erschossen. [4] Der zweite Bruder meines Mannes, Franz, kam nach Theresienstadt und wurde dann vergast. [5]

Dann holte man die Schwiegermutter, das heißt mehrere ältere Menschen, mit einem Lastwagen, darunter waren auch zwei Kinder im Alter von drei Jahren (Zwillinge). Es war der 11. Mai 1942, an dem sie laut ihrer Registriernummer abgeholt wurde. Ich habe noch Kopien von den Karten, die meine Schwiegermutter beim Abtransport noch schnell geschrieben hat. Wir haben seither nichts mehr gehört von der Mutter meines Mannes. Wir haben uns am Hauptmeldeamt erkundigt, und dort hat man uns gesagt, dass vermutlich der Transport nach Izbica, Kreis Lublin ging und sie aller Wahrscheinlichkeit nach durch Erschießen getötet wurde. [6] Wir wissen nicht einmal, in welcher fremden Erde sie ruht. Vielleicht wurde die Asche im Winde verstreut. Zwei meiner Brüder kamen im Krieg ums Leben.

Wir lebten in Angst und Schrecken, mit Gottes Hilfe kam das Kriegsende. Bei uns stellte sich am 17. Mai 1945 Zuwachs ein – wieder ein Sohn, Herbert. Unter Hunger und Not halfen wir aus Dankbarkeit, Österreich aufzubauen. Wir gingen nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht "Schneeschaufeln". Da bekamen wir einen warmen Tee und ein Stück Brot. Und waren glücklich, wieder leben zu können. An den Hunger hatten wir uns schon gewöhnt.

Die Wunden sind bis heute nicht geheilt.

Zurückblicken darf man nicht.

Möge unsere Jugend von alledem verschont bleiben! Ich wünsche von ganzem Herzen besonders der Jugend und den Menschen Glück und Gesundheit, vor allem Frieden auf der ganzen Welt!

Henriette und Paul Haas feierten am 28. November 1986 ihre Goldene Hochzeit und waren sehr glücklich, dass sie diesen Tag erleben durften. Paul Haas starb am 7. Juni 1998, und kurz darauf, am 4. Juli 1998, verstarb auch Henriette Haas. Arthur Haas ist verheiratet und hat zwei Kinder. Herbert Haas ist am 12. April 2005 verstorben. Auch er war verheiratet und hinterließ eine Tochter. Die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen von Henriette Haas wurden dem Nationalfonds von Arthur Haas zur Verfügung gestellt.

Dieser Artikel wurde auch veröffentlicht in: Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus, Band 2. Wien, 2012, Seite 50-57.

[1] Ab Jänner 1939 mussten Jüdinnen den zusätzlichen Vornamen Sara, Juden den Vornamen Israel annehmen.
[2] Gemäß den "Nürnberger Rassegesetzen" von 1935 galt Henriette Haas nicht als Jüdin, der Sohn Arthur hingegen schon, da "Mischlinge 1. Grades", die aus einer Ehe stammten, die nach dem Stichtag 15. September 1935 geschlossen worden war, ebenfalls als jüdisch galten.
[3] In besonderen Ausnahmefällen konnten im Zuge eines "Befreiungsverfahrens" Jüdinnen und Juden bzw. als jüdisch geltende "Mischlinge" "deutschblütigen" Personen rechtlich gleichgestellt werden.
[4] Im Dezember 1939 gelangten rund 1.000 jüdische Flüchtlinge, die per Schiff auf der Donau von Bratislava Richtung Palästina aufgebrochen waren, an den serbischen Ort Kladovo, wo der Transport gestoppt wurde. Im September 1940 wurden sie in das Städtchen Šabac verlegt. Kurz vor dem deutschen Überfall auf Jugoslawien im April 1941 konnten einige dieser Menschen nach Palästina flüchten; der Großteil der übrigen Personen wurde im Zuge der NS-Vernichtungspolitik gegenüber den jugoslawischen Jüdinnen und Juden ermordet – die Männer des Kladovo-Transportes wurden im Herbst 1941 erschossen, die Frauen und Kinder im Jänner 1942 in das KZ Sajmište bei Belgrad überstellt und später ermordet.
[5] Franz Haas wurde vermutlich von Theresienstadt weiter nach Auschwitz deportiert und dort ermordet; in Theresienstadt selbst gab es keine Gaskammern.
[6] Zwischen April und Juni 1942 gingen von Wien vier Transporte mit insgesamt 4.000 österreichischen Jüdinnen und Juden nach Izbica im heutigen Polen ab, die zunächst in das dortige Ghetto eingewiesen wurden; die Menschen wurden schließlich – soweit sie nicht bereits im Ghetto umgekommen oder ermordet worden waren – ab Sommer 1942 in das Vernichtungslager Belzec weiterdeportiert. Von den 4.000 Personen ist kein einziger Überlebender bekannt.