Koloman Baranyai

Heute bringen sie die Roma weg

Koloman Baranyai wurde am 31. März 1941 in Katzelsdorf/Niederösterreich geboren. Seine Familie gehört der Volksgemeinschaft der Roma an. Aufgrund der guten Beziehungen seines Vaters zu den Nicht-Roma, für die er musizierte und Gelegenheitsarbeiten verrichtete, wurde die Familie vor einer Razzia gewarnt und konnte rechtzeitig vor den Nazis flüchten. Herr Baranyai überlebte mit seiner Familie versteckt in den Wäldern Österreichs, Ungarns und der ehemaligen Tschechoslowakei. Sein Onkel, die Tante, deren Kinder sowie seine Großmutter kamen in den Lagern um.

Der folgende Auszug aus der Lebensgeschichte von Herrn Baranyai wurde einem Interview (auf Roman geführt) aus der ZeitzeugInnen-Dokumentation "Mri Historija. Lebensgeschichten burgenländischer Roma" vom Verein "Roma Service" entnommen.

Erst sind wir nach Ungarn geflüchtet. Dort haben wir uns lange aufgehalten. Wir haben im Wald gelebt. Mein Vater ist gegen Abend immer ins Dorf gegangen. Es hat Geschäftsleute gegeben, die ihn gekannt haben. Sie haben ihm die Hintertür geöffnet und ihn hineingelassen. Schnell hat er die Sachen genommen, die er gekauft hat, und so haben wir zu essen gehabt. Und dann haben ihm die Ungarn gesagt: "Julo, pass auf! Heute bringen sie die Roma weg. Schau, dass du mit deinen Kindern und deiner Familie davonkommst!" So sind wir nach Tschechien geflüchtet. Und auch dort haben wir lange gelebt, auch wieder im Wald. Wir haben aber Glück gehabt, dass sie uns nicht erwischt haben. Denn von dort sind viele geflüchtet, aber die SSler haben den Großteil gefangen genommen und abtransportiert. [...]

Wir haben immer einen Vorrat gehabt. Mein Vater hat immer darauf geschaut, dass wir, auch wenn eine große Hungersnot kommen sollte, etwas zu essen gehabt haben. Er hat immer darauf geachtet, und falls einmal nicht, hat er einen Hasen im Wald gefangen. Wenn er irgendwo ein Wild gesichtet hat, dann hat er es erlegt und dann haben wir das gehabt. [...]

Die Gadsche [Nicht-Roma] haben alle gewusst, dass wir Roma waren. Sie haben uns nicht verraten, denn sie haben meinen Vater sehr gern gemocht. Mein Vater hat nie gesagt: "Nein, das kann ich nicht machen, ich kann dir nicht helfen." Mein Vater war immer hilfsbereit. Er hat auch immer für sie gearbeitet. Deswegen haben sie meinem Vater auch immer etwas zu essen gegeben. Sie haben ihm auch Geld geben wollen. Er aber hat gesagt, er braucht kein Geld, ihm sind Lebensmittel lieber. [...]

Mein Opa, der Vater meiner Mutter, ist an Sorgen gestorben. [...] Meine Oma – ich weiß nicht, in welches Lager sie gekommen ist – ist in diesem Lager ermordet worden. Das haben wir erst nach Kriegsende erfahren, dass sie im Lager ermordet worden ist. Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, der Albert, der ist nach Auschwitz gekommen. Dort ist er, ein oder zwei Wochen später, ermordet worden mit seiner Familie, seiner Frau und seinen zwei Söhnen. [...]

Die Roma, die zurückgekommen sind und die auch alle in Ungarn gewesen sind, haben alle sehr armselig gelebt. Ihre Häuser, die sie gehabt haben, waren alle weg. "Wertbeschlagnahmt" von der SS oder bombardiert – es war halt alles schwer. Nicht einem Einzigen ist es gut gegangen! Wie soll ich sagen? Das kann kein Mensch richtig sagen. Alle waren sie krank, sie waren sehr krank. Entweder haben sie was am Herzen gehabt oder auf der Lunge. Die meisten sind nach und nach gestorben. [...]

Nach dem Krieg hat sich die Familie zunächst in Heiligenkreuz, dann in Baden bei Wien niedergelassen. Als Koloman Baranyai acht Jahre alt war, haben sich seine Eltern getrennt. Seine Mutter sah sich gezwungen, ihre beiden Söhne zu einer Bauernfamilie zu geben, wo sie bis zum 14. Lebensjahr blieben, bei der Arbeit mithelfen mussten und so die Schule nur sehr selten besuchen konnten. Im Alter von 14 Jahren kehrte Herr Baranyai zu seiner Mutter zurück und begann, bei einer Baufirma zu arbeiten. Doch Koloman Baranyai, der als Kind schon Geige lernte, sah in der Musik seine wahre Berufung.

Und er [der Vater] hat zu mir gesagt: "Kalman, was willst du lernen?" Er hat mir nicht vorgeschrieben, was ich lernen sollte, aber auf jeden Fall ein Instrument. Und ein Musiker habe ich werden müssen. Er hat mir aber gesagt, dass ich das Instrument selbst aussuchen darf, das ist ihm egal. So habe ich begonnen, Geige zu lernen, das hab ich schon ein bisschen können. Damals waren wir Kinder aber wie Clowns, ich bin daher bei so einer Schneidemaschine mit der Hand hineingekommen, dort habe ich mir den Finger abgeschnitten, und dann war es aus mit dem Weiterlernen. Dann habe ich mit der Bratsche begonnen, aber auch auf der Bratsche habe ich mir mit meinem Finger schwer getan, und dann habe ich auch das gelassen. Und so ist schließlich die Bassgeige mein Hauptinstrument geworden. [...]

 

Koloman Baranyais Identität als Rom, seine enge Beziehung zur Muttersprache und sein Selbstverständnis als Musiker sind bis heute untrennbar miteinander verbunden.

 

Die Erstveröffentlichung dieses Artikels erfolgte in: Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus. Wien, 2010, Seite 263-267.