Leo Luster

Die Feuer von Auschwitz lodern und brennen

Leo Luster wurde 1927 in Wien geboren. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verlor sein Vater Moshe Luster seine Arbeit; die Wohnung der Familie wurde beschlagnahmt. Im September 1942 wurden Leo Luster und seine Eltern in das Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt in Böhmen deportiert. 1944 kamen er und sein Vater in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wo sein Vater ermordet wurde. Nachdem er zum „Arbeitseinsatz“ in das KZ Gleiwitz transportiert worden war, wurde Leo Luster im Jänner 1945 auf einen so genannten Todesmarsch geschickt. Er wurde im KZ Blechhammer von der sowjetischen Roten Armee befreit.

1949 emigrierte Leo Luster mit seiner Mutter Golda Luster, die Theresienstadt überlebt hatte, nach Israel. Dort lernte er seine Frau Shoshana kennen, die er 1955 heiratete.

Nach seiner Pensionierung im Jahr 1992 setzte sich Leo Luster gemeinsam mit dem ebenfalls aus Österreich stammenden Gideon Eckhaus für die in Israel lebenden, vertriebenen österreichischen Jüdinnen und Juden ein und war Vorstandsmitglied des Zentralkomitees der Juden aus Österreich in Israel und der Vereinigung der Pensionisten aus Österreich in Israel. 2002 erhielt er für seine Tätigkeiten in diesen Funktionen das Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich.

Leo Luster ist Mitte Jänner 2017 in Israel verstorben.

Kurz vor seinem Tod hatte Leo Luster dem Nationalfonds die drei nachfolgenden Texte übergeben, die er vermutlich alle kurz nach dem Kriegsende verfasst hat und in denen er das Erlebte literarisch aufarbeitet.

Wir fahren aus Theresienstadt …

In „Wir fahren aus Theresienstadt …“ erinnert sich Leo Luster an seine Deportation von Theresienstadt nach Auschwitz.

Die Waggontüren fallen zu. Auf einem Haufen von Gepäckstücken jeder Größe und Art kauern sich alle zusammen, so gut es eben geht. Man tauscht Meinungen aus, wohin der Transport gehen soll. Das angegebene Ziel eines Arbeitslagers wird kaum geglaubt. Doch über die bevorstehende Wirklichkeit gehen die Ansichten sehr weit auseinander. Mancher brütet auch nur vor sich hin. Denn Abschied nehmen kann man ohnehin nicht mehr. In die Bahnhofstraße darf ja ohnehin niemand, und was mit Worten oder Gesten zu sagen war, ist schon in der Kaserne, die als Sammellager und Bahnhof zugleich diente, geschehen. Ein Kapitel der Wanderung ist vorbei, und das nächste ist noch in die dunkle Nacht gehüllt, die jetzt Theresienstadt umgibt. Vom schmalen Gehsteig hört man einzelne Worte, Anweisungen von der SS [1], Rufe nach Gepäck, vereinzelte Flüche. Endlich ein Pfeifen, ein Ruck durchläuft den Zug, der sich aufbäumt wie ein gewecktes Tier – die Fahrt ins Ungewisse hat begonnen.

Wieder haben 1.500 Theresienstadt verlassen, dieses böhmische Garnisonsstädtchen, auf das sie geschimpft hatten und von dem ihnen heute der Abschied so schwer fällt wie von der Heimat. Trotz allem, dort war man geborgen in seiner eng begrenzten Welt, seiner Arbeit, seinem kleinen Kreis von Bekannten. Nun ging es fort, und wieder ist die Frage in aller Gedanken: Wohin? Gerüchte schwirren herum, es wäre Nachricht vom ersten Transport gekommen, „Aus Dresden“, sagt einer, „Das kann nicht stimmen“, meint ein anderer, eine kleine Unterhaltung beginnt, bald weiß jeder etwas von den anderen. Dieser junge Tscheche ist mit einem der ersten Transporte aus Prag nach Theresienstadt gekommen, hat die ärgsten Zeiten miterlebt, hat das Ghetto aufbauen helfen müssen mit der Kraft seiner Arme, und für all das hat er das letzte Jahr als „Prominenter“ verbracht, in seiner ausgebauten Mansarde, seinem guten Posten in der Verwaltung. Heute fährt er zusammen mit dem kleinen Holländer, der noch vor vier Monaten frei war, im Auftrage der Lagerleitung von Westerbork [2] verhandelte und ein gutes Leben führte, dann im Lager in Holland „Privatier“ war und Terezín [3] nur von einem fünfwöchigen Aufenthalt kennt.

Doch plötzlich wird alles Gerede unterbrochen, die Wagentür wird aufgerissen, ein baumlanger SS-Untersturmführer steht in der Öffnung: „Mal herhören, nicht! Also wer etwas zum Fenster hinauswirft, den mache ich selber kalt! Ich kann scharf schießen!“ Wieder fällt die Türe zu, eine seltsame Stille ist eingetreten, keiner kann weitersprechen. Soll man glauben, dass es in ein Arbeitslager geht? Es dauert noch Minuten, bevor die Unterhaltung stockend wieder in Gang kommt, doch bald verstummt sie wieder. Kaum einer in den Wagen hat die letzte Nacht geschlafen, jetzt fordert der Körper sein Recht; jeder rollt sich in seinem Winkel zusammen, schließt die Augen und döst vor sich hin.

Langsam kriecht eine graue Dämmerung hoch, gierig suchen Dutzende Augen die Namen der Stationen zu erkennen; Vororte beginnen sich aneinanderzureihen, Fabriksanlagen tauchen auf: Dresden. Doch der Zug rollt weiter durch das Land. Da kracht ein Schuss. Jeder fährt von seinem Platz auf: Was war das? Die Ängstlichen sehen schon das schwärzeste Schicksal, aber es gibt auch manche, die der Detonation gar keine weitere Bedeutung beimessen. Immer weiter fährt der Zug, es wird Mittag und wieder Abend, immer fragender werden alle Blicke: Wohin geht unser Weg? Die Nacht senkt sich herab, doch jetzt denkt keiner ans Schlafen, zu gespannt ist jede Fiber jedes Einzelnen, als dass er jetzt ruhen könnte. Schon lange hat man das eigentliche Sachsen [4] verlassen, gondelt irgendwo zwischen der Lausitz [5] und Schlesien [6] umher, und die Fahrtrichtung nimmt ihren Kurs nach Osten ...

Rastlos fährt die Maschine immerzu. Beim Schein von Stationslichtern erkennt man den Namen Neiße [7]. Und mit einem Male ist ein neues Wort ins Gespräch gekommen: Oberschlesische Kohlengruben. Als der erste Tagesschimmer erscheint, sieht man Kattowitz, dann Myslowitz [8]. Noch wenige Minuten, dann hält der Zug ruckartig auf offener Strecke, Männer in Uniformen springen auf die Trittbretter der Waggons, dann geht die Fahrt verlangsamt weiter, bis die Lokomotive stillhält: Auschwitz!

Irgendwann hat man in Terezín diesen Namen schon gehört, erinnert sich einer oder der andere. „Schwarze“ Briefe waren gekommen, über Konfiskation der Koffer, wenig Essen, schwere Arbeit, viele Tote und irgendetwas über Gas, aber darüber war nichts Genaues zu lesen, und so hatte man es gar nicht ernst genommen. Ach was, Ammenmärchen ... Gerade so viel Zeit hatte man noch zum Nachdenken, dann stürmt es zur Türe herein: Männer in gestreifter Kleidung, breitschultrige Gestalten mit Stöcken, Knüppeln und Gerten in den Händen, und ehe man noch richtig weiß, was los ist, fallen schon die ersten Hiebe, hört man schon auf Jiddisch, Deutsch, Polnisch und Französisch: „Heraus! Allons! [9] Alles liegen lassen!“ Verängstigt lassen die Ersten, die aussteigen, alles am Kofferhaufen liegen und klettern hinunter, werden von einem neuen Geprassel von Schlägen empfangen. „Aufgehen zu fünf! Vorwärts! Wollt ihr nicht oder könnt ihr nicht! ...“ Die Reihen formieren sich, mit den SS-Leuten, Schupos [10] und den Zebras [11] geht es einige hundert Meter weiter. Neues Kommando. Einzeln vor. Eine stramme Linkswendung, da vorne ist Stacheldrahtzaun, Tafeln: „Bei Näherkommen wird scharf geschossen!“ Dahinter Frauen, in elende Lumpen gehüllt, winken uns mit ausgemergelten Armen, verzerrten Gesichtern, die beinahe nicht mehr menschlich sind; hinter ihnen Baracken ohne Fenster, Wäsche auf Seilen zum Trocknen aufgehängt, alle hundert Meter etwa ein Wachtturm, SS-Posten mit Maschinenpistolen und MGs.

Doch da ist noch etwas zwischen diesem Schreckensbild und den neu Angekommenen: Auf der Bahnrampe steht ein langer schmaler SS-Mann, hinter ihm, links und rechts, sind Gruppen von Menschen. Sein Daumen geht unablässig, im gleichen Takt, in dem die Männer an ihm vorübergehen, mal nach links, mal nach rechts. Seine schneidende Stimme fragt eisig: „Wie alt? Gesund?“ Noch ein prüfender Blick auf die Gestalt, vielleicht noch eine Frage nach dem Beruf. Nach links zeigt der Daumen im Wildlederhandschuh beim jungen Tschechen, beim Holländer nach rechts, die Reisegemeinschaft ist zerrissen, das Schicksal hat die beiden auseinandergebracht, zum Händedruck ist keine Zeit mehr, nur noch ein kurzer Ruf: „Mach's gut!“

Jeder ist bei seiner Gruppe angelangt, die Kameraden werden gemustert. Was geschieht mit uns, was mit denen auf der anderen Seite? Ein nicht brutal aussehender SS-Mann geht vorüber, einer wagt die schicksalsschwere Frage. Bereitwillig antwortet er in gebrochenem Deutsch, denn er ist Volksdeutscher vom Balkan: „Sie wieder alle sein zusammen, sie dort, sein schwach – nix geh'n zu Fuß, fahren Auto zu Arbeit ...“ Vielleicht kann man noch mehr vom ihm erfahren, einer bekommt den Gedanken, ihn um Zigaretten anzugehen, gibt ihm dafür seine Goldfüllfeder, da sagt der junge Deutsche selbst: „Dort alles ihnen wegnehmen. Mir geben Geld, Gold, Uhr, ich geben viele Zigaretten!“ Bald haben alle Posten ihre Taschen mit Wertgegenständen vollgestopft.

Auf der anderen Seite kommen große Lastwagen an, die Menschen werden hineingepresst. „Wir marschieren auch gleich ab.“ Formieren zu fünf, neue Schlange. Der Menschenstrom setzt sich in Bewegung. Zwanzig Minuten geht es über die Straße, zwischen Stacheldraht hindurch, an Baracken vorbei, aus denen entmenschte Gesichter starren, die eine beredte Sprache sprechen vom „Leben“ hier ... Vor einem langgestreckten Holzbau wird haltgemacht. Man lagert sich in kleinen Gruppen und wartet ...

Ein Sträfling, auf dessen Armbinde „Kapo. [12] Effektenkammer“ steht, unverständlicher Ausdruck, der auf der linken Brustseite einen kleinen Leinwandstreifen trägt mit einem grünen Dreieck und einer Nummer, schreit aus voller Kehle zum Antritt. Wieder steht man in Reih und Glied: „Ihr seid jetzt im KZ. Wenn ihr noch nicht wisst, was das bedeutet, dann werdet ihr es eben lernen müssen. Jetzt wird alles abgegeben, was ihr bei euch habt. Uhren, Ringe, Geld, wenn ich dann noch bei einem etwas finde, dann funkelt's!“ Sein Tuch füllt sich mit allen möglichen Gegenständen, ein Bursch bringt einen neuen Sack, auch der wird voll ...

Weiter warten. Um eine Gruppe sammeln sich viele Männer, ein Kamerad aus dem Waggon, wo der Schuss fiel, erzählt: „Wir waren eben beim Essen, da hat unser Kollege unachtsam ein Margarinepapier aus dem Fenster fliegen lassen. Knapp nach der nächsten Station kommt der SS-Trpt.-LTR [13] in unseren Wagen: ‚Wer hat hier was aus dem Fenster geworfen?‘ Der Mann meldet sich nicht. Als aber der SS-Mann droht, den ganzen Waggon niederzuknallen, denkt unser Kollege wahrscheinlich, dass er uns die Unannehmlichkeiten ersparen will und dass es doch nicht so ernst gemeint ist, hebt die Hand. Ein scharfes ‚Also du Hund warst es‘, dann reißt er den Revolver heraus, sechs Schüsse knallen, nur dem ersten folgt ein Aufschrei, die folgenden treffen schon den Leichnam. Aus der Kopfwunde spritzt das Blut unseres Kameraden auf uns. Ungerührt geht der Mörder hinaus ...“

Wieder ein Aufjagen zum Baden. Man kommt in einen großen Raum, alles muss ausgezogen werden. Gürtel, Schuhe, Brot darf man behalten. In den Anzügen bleiben Dokumente, Bilder der Lieben, noch ein Blick darauf, dann wird man weitergetrieben, an einem Posten vorüber, der jeden ganz untersucht.

In schier endlosem Gänsemarsch schreiten die 700 in eine lange Halle. An der Fensterseite stehen wieder Häftlinge. In ihren Händen schimmern Haarschneidemaschinen, in blitzartigem Tempo, noch ohne dass es allen klar geworden ist, haben die Friseure sich der Köpfe bemächtigt und schneiden und rasieren drauf los. Die Haare fliegen, der Körper wird mit gleicher Geschwindigkeit rasiert, kaum einen gibt es, der nicht Kratzer aufweist oder blutet. In kaum zwei Stunden sind alle geschoren, und als sie einander anblicken, erkennen sich nur mehr die wenigsten. Man hat keinen Namen mehr, keine äußere Erscheinung eines Menschen. Was wartet da noch? An der Seite sieht man Kammern mit mächtigen hermetischen Türen und Inschriften, die darauf hindeuten, dass hier Kleider vergast werden. Oder sollten nicht nur Kleider …? Entsetzlich der Gedanke, denn die Friseure antworten auf die Frage nach dem Verbleib der anderen mit Achselzucken und murmeln etwas von Öfen und Gas. Doch man kann es nicht glauben, dass das die Wahrheit sein sollte. Sie wollen uns nur schrecken, vielleicht kirre machen für einen Zweck, den wir noch nicht kennen. Auf einmal „Achtung“, ein blonder SS-Mann schreitet stolz durch die Halle, mustert die Körper mit verächtlichem Lächeln: „Die haben wir bald im Krematorium drüben, schlappe Judenbrut.“ Seine Worte begleitet er mit Stiefeltritten nach allen Seiten. Weiter windet sich der Strom durch einen Warteraum ins Bad. Automatisch können sich die Türen schließen, luftdicht sind die Fenster, die Leitungen doppelt gelegt. Die Strahlen heißen Wassers spülen jeden Gedanken ab, man ist froh, dass der Körper wieder rein wird. Hinaus aus dem Bad ... Wie ein geheimer Druck weicht es von jedem einzelnen. Noch einmal ein Gang im Halbkreis, man erhält Kleidung: Hemd, Rock, Hose, Fußlappen, Kappe ... Nichts passt, wenig ist ganz ... Dann tritt man hinaus in die Oktobernacht, die schon hereingebrochen ist. Zitternd vor Kälte stehen siebenhundert Menschen vor dem Badgebäude, der „Sauna“.

Kurze Befehle klingen auf, aufs Neue beginnt der Trott zu fünft, zur Abwechslung im Laufschritt. Zwischen Baracken, an Posten vorbei, bis man selbst irgendwo in eine Baracke gestoßen wird, ins Dunkel. Als es Licht wird, bietet sich die Einrichtung dar; Bettgestelle, dreistöckig, doch ohne Einlagen […]! Auf dem leicht erhöhten Mittelgang der Baracke erscheint ein dicker Geselle, Typ eines Hafenchauffeurs, im besten Falle. In der Hand einen langen Knüppel; hinter ihm zwei lange Burschen, ebenfalls so ausgerüstet. „Ich sage euch gleich eines: Was ihr an Geld und Gold habt, gebt ihr mir ab. Den letzten, bei dem ich später bei der Untersuchung Geld gefunden habe, habe ich eigenhändig aufgehängt. Was, Janek?“ Untersuchung, mancher wirft noch vorher etwas weg, Drohungen, Geschrei, Stöhnen der Geschlagenen ... Wo ist die andere Seite? Bald gibt uns jeder Gefragte die gleiche Antwort. Das! Dort! Wir treten in die Nacht hinaus. Vor uns und auf der Seite lodern Flammen gegen den rabenschwarzen Himmel, züngelt es rot empor.

Die Feuer von Auschwitz lodern und brennen. Ihre Nahrung sind die Leiber derer, die noch vor 24 Stunden lebende Menschen unter uns waren. Mit diesen Flammen wird unser Liebstes zu Asche!

Nachtschicht

Den Text „Nachtschicht“ hat Leo Luster im Mai 1945 in Sagan, der heutigen westpolnischen Stadt Żagań, verfasst, wo er sich nach dem Kriegsende für kurze Zeit in einem sowjetischen Lager für Kriegsflüchtlinge aufhielt. Er beschreibt darin seinen Alltag im aus vier Außenlagern des KZ Auschwitz bestehenden KZ Gleiwitz im heutigen Polen, wohin er 1944 deportiert worden war und wo er unter unmenschlichen Bedingungen Eisenbahnwaggons reparieren musste.

Arbeitsantritt im KZ Gleiwitz – Gong.

Die Blocks entleeren sich ihres Inhalts: Juden treten an. Ein Elendshaufen hohlwangiger Gestalten stellt sich in die Reihe. Das Kommando ertönt. Heute, morgen, übermorgen ... Wie lange noch wirst du das hören? Automatische Bewegungen; müde und hoffnungslos der Blick. Furcht vor der kommenden Nacht; Kälte, Hunger, Schlaf, die drei Peiniger immer vor rotgerändeten Augen.

„Arbeitskommando formieren!“

Wankende Gestalten reihen sich zum Abmarsch in die Kolonne ein. Werden gezählt, gezählt. Oh Ende! Befreie mich von dieser Qual! Erlöse mich! Noch immer kein Abmarsch. Warten. Worauf? Auf Schläge, auf den Tod. Nacht senkt sich auf den Appellplatz. Die Kolonne steht noch immer. Wartet. Endlich: „Das Ganze stillgestanden! Im Gleichschritt, Marsch!“ Die Grauen marschieren. Musik lärmt auf. „Kopf hoch! Vordermann Seiten¬rich¬tung!“ Durchs Tor, vorbei an den Peinigern. „Mützen ab! Mützen auf!“ Die ewigen Worte: Das Einmaleins des Häftlings. Und wieder geht's über den Feldweg zur Straße. Die zur Fabrik führt. „Aufgehen!“ Müde, unendlich müde. Weiter. Anschließen an die vor dir, nicht nachgeben, sonst saust dir der Gewehrkolben in den Rücken. Stolperst du, bleibst du liegen, gehen sie über dich hinweg. Hast du Glück, heben sie dich auf.

Das Fabrikstor öffnet sich. Hinein drängt sich die graue Flut, angetrieben und angepeitscht, zur letzten Anspannung der Kräfte, Aufstellung, Abzählen, ewig gleichbleibende Phrasen der Oberkapos: Disziplin, Reinlichkeit, Arbeit. Oh Ekel! Und kein Ende. Stumpf das Hirn. Leer der Magen. Wann hast du dich das letzte Mal satt gegessen? Wann, ich weiß es nicht mehr. Dann Gedränge, Gestoße, Treten, Schlagen – und du stehst vor dem Waggon. Und du beginnst die schwere Arbeit wieder. Fühlst, dass du dabei langsam zugrunde gehst, der Hammer wird von Tag zu Tag schwerer, die Hand zittert, der Meister schlägt, versteht deine Schwäche nicht, will sie nicht verstehen. Und du arbeitest bis zum Letzten. Nur manchmal denkst du: „Wofür?“ Du weißt, wenn du verbraucht bist, ausgesogen bis zum letzten Blutstropfen, wirst du ausgestrichen aus der Liste der Lebenden. Sie schicken dich in den Kamin. Angst? Nein. Nur ohnmächtige Wut, übergehend in Lethargie. Sollen sie. Einer weniger.

Nacht ist. Es friert dich. Die Fetzen schützen dich nicht. Eisen ist kalt. Überall Kälte. Waggons, Menschen, alles kalt. Egoismus bis zum Exzess. Fällt einer um, denkst du an seine letzte Essensration. Nimmst sie. Der Mensch in dir rührt sich nicht mehr. Du frisst nur. Ein wenig Kraft mehr. Erbarmen? Nein. Heute er, morgen du. Es heult dir keiner nach. Schlaf fällt dich an, weiter arbeiten. Überall belauern dich Spitzel, in und ohne Uniform, zeigen dich an beim Oberkapo – du weißt schon: Schläge, Schläge ...

Endlich! Gong. 0.30 Uhr. Wieder abzählen. Dann für eine Viertelstunde zum wärmsten Platz. Hingekauert an die Dampfröhren und schlafen. Deine Nachtration ist längst verzehrt, obwohl du dir gerade dieses Mal vornahmst, sie bis jetzt aufzusparen.

Schlaf. Eine Vision dämmert auf: Mutter, Vater, Kinder, Essen, Ruhe, Leben, alles das war. Nun ist es ausgelöscht. Und du siehst wieder das Fanal, das dich verfolgt, wo du gehst, stehst, träumst und leidest. Ewig Unauslöschliches weicht nicht.

Der Vollstrecker des Willens eines Wahnsinnigen, Millionen Juden in den Kamin zu schicken – doch du bist müde, willst schlafen. Und nie mehr erwachen. Ein Signal reißt dich auf, geblendet, schwach vor Hunger gehst du wieder arbeiten. Für wen? Für den, der deine Mutter, Vater, Frau, Kind verbrennen ließ. Du weißt es, du fühlst es immer in dir, doch was nützt das alles. Es beschwert dich nur in diesem Kampf auf Leben und Tod. Es ist schon zu viel. Willst du in letzter Verzweiflung in den elektrischen Draht rennen? Vielleicht, morgen oder übermorgen. Und weiter arbeitest du, Hunger und Schlaf plagen dich. Noch nicht 3.00 Uhr? Immer noch ein Waggon zu reparieren. Bis zum Letzten pressen sie dich aus, die verlogenen Hunde, und faseln von Kultur. Treten, töten, peitschen, vergasen, erschlagen Tausende – und sprechen von Kultur ... Aber du bist müde, denkst nur noch an das kommende Essen, an den Schlaf. Aber wann? Nie weißt du, ob du dich nicht stundenlang vorher im Dreck wälzen oder laufen musst, dass dir das Herz zerspringt. Ist das Bett in Ordnung gemacht, wird man uns heute untersuchen, bevor wir uns todmüde auf den Strohsack hauen dürfen? Wie lange wird's noch dauern? Wilde Sehnsucht nach Brot, Schlaf. Und endlich: Gong. Den Schmutz von den Händen notdürftig weggewischt. „Antreten!“ Geht's zu langsam, saust die Peitsche. Menschen rennen. Nein, nur Juden. Stoßen, Schreien. Dann Stille. Wieder Kommandos. Immer dasselbe. Ewig dauert's. Der Kopf sinkt im Halbschlaf auf die Brust. Der Peitschenhieb lässt dich auffahren. „Im Gleichschritt, Marsch!“ Die graue Schlange bewegt sich in den grauen Morgen. Stolperst vor Übermüdung. Doch weiter. Der Kolbenhieb sitzt: „Aufgehen, verfluchte Bande!“

Derselbe Weg, derselbe Himmel. Schwarz wie unsere Hoffnung. Auf geht das Tor. Es birgt wieder die Grauen, Stumpfen, Todgeweihten.

Appell. Zahl stimmt. Dann endlich – schlafen, oder nicht? Hat der Sadist noch etwas vor mit dir? Lässt er dich noch um den Appellplatz hüpfen, dass dir die Sinne vergehen, oder steckt er dich ins Bad unter den eisigen Wasserstrahl? Was kommt, ist alles egal. Überlebst du's – gut, wenn nicht – auch gut. Ende! Nur schon ein Ende. Mit allem!

„Blöcke abrücken!“ Die Erlösung – für heute. Du denkst nicht an morgen. Haust dich auf den Strohsack. Decke über den Kopf und schlafen. Nichts mehr wissen vom grausigen Morgen und der Zukunft.

Du schläfst. Der große Peiniger lässt dir Ruhe – bis – ...

Sagan, den 20. Mai 1945
geschrieben
Leo Luster

Wieder frei!

Im Text „Wieder frei!“ schildert Leo Luster seine Befreiung aus dem im heutigen Polen gelegenen KZ Blechhammer, einem Außenlager von Auschwitz, durch die Rote Armee.

Die Nacht geht ihrem Ende zu. Durch eine leichte Wolkendecke schimmert nur an wenigen Stellen der schwarze Himmel durch. Dunkel und stumm ragen drüben am Horizont die Silhouetten der Kiefern auf. Aus der Ferne tönt mit eiserner Regelmäßigkeit etwa alle fünf Minuten ein Schuss der schweren Artillerie, dazwischen bellen die Maschinengewehre zeitweilig auf. Und immer näher rückt dieser Kampfeslärm, unerbittlich. Einer steht draußen vor der Baracke, denkt, starrt in das Düster. Nun ist die Zeit gekommen, auf die wir so lange gewartet hatten, wir sehen, hören die Boten des Anfangs einer neuen Zeit, und doch, irgendwo in uns ist noch Angst verborgen, schlägt Furcht vor dem „Ende“ im Klopfen unseres Herzens mit. Ganz leise rieselt es durch die Seele, das Erinnern an jenen Vers, der einmal zu lesen war – wo, das ist schon längst vergessen – „Herb ists, das lang ersehnte Licht nicht schauen, zu Grabe geh‘n in seinem Morgengrauen“ [14] ...

Ganz bleich beginnt es im Osten zu dämmern, der erste Blick geht gewohnheitsmäßig zum Wachtturm am Haupttor. Unbeweglich bleibt das Auge, automatisch gehen die Beine die wenigen Schritte bis zur Ecke, damit man klarer sieht – es ist keine Täuschung, kein Sinnentrug: Der Turm ist leer, verschwunden der Posten, allein und ehern – stumm blicken die Läufe des Maschinengewehres auf das Lager. Die Augen heben sich, wandern in die Runde: Überall das gleiche Bild. So sind wir denn allein geblieben, vorbei der jahrelange Spuk, der Schrecken in seiner wildesten Form, die dauernde Drohung. Oder soll das noch nicht das Ende sein? Wartet unser vielleicht noch neues Grauen?

Und jetzt, da es heller wird, strömen aus allen Baracken Häftlinge, Kranke und Ärzte des Revieres, um das zu sehen, was man nur noch erhoffte, nicht mehr wirklich glauben konnte.

Wie ein Lauffeuer ist die Nachricht auch ins Lager selbst gedrungen, das Treiben, das sich dort entwickelt, wirkt gespenstisch: Aus dunklen Winkeln, aus Kartoffelbunkern, Latrinen, Haufen von Stroh und Unrat kommen Menschen hervorgekrochen, die sich der zwangsweisen Evakuierung widersetzt hatten, als in der vergangenen Nacht alle Gehfähigen das Lager unter SS-Bewachung verlassen mussten. Männer und Frauen – diese kamen erst vor wenigen Tagen hierher – blinzeln in das neue Licht mit skeptischen Augen. Sie können diesem Frieden noch nicht trauen, noch sprechen in gar nicht weiter Entfernung die Geschütze, noch könnte ein deutsches Flugzeug, das über uns seine Kreise zieht, Tod und Verderben mit seiner Bombenlast auf uns abwerfen, noch wagten wir nicht zu sagen: „Wir sind frei!“

Und als man das Lagertor offen findet, stürzt eine Menschenwoge hinaus, prallt gegen die Umfriedung des SS-Lagers, überrennt sie, ergießt sich unaufhaltsam in die Wohnräume und Speicher, brandet zurück, wenn sie ins Leere stößt, und flutet weiter, in Vorratsräume und Magazine, Kleiderkammern und Keller, Dinge, eine fast endlose Zeit nicht mehr gesehen, liegen hier in Hülle und Fülle. Was der geschrumpfte Magen nur begehrt, wonach sich der ausgemergelte Körper gesehnt hat, ist hier in Massen vorhanden. Und sie stürzen sich darauf, schlingen und raffen, die Augen suchen fort, während die Hand noch zugepackt, die Blicke leuchten hohl aus den fahlen, abgestumpften, ausgedörrten Gesichtern, heisere Schreie entringen sich den Skeletten, wenn zwei Paar Knochenfinger unvermutet zusammenstoßen im Paradies eines Marmeladekübels, im überströmenden Reichtum eines Zuckerfässchens ...

Die Sonne steigt, die Menge, die vor den Toren ist, wechselt im Laufe der Stunden die freudige Bewegung nicht ab. Ohne Maß verstreicht die Zeit. […] Doch manch einer kann noch nicht froh werden, denn immer noch hallen vereinzelte Schüsse durch die Luft, wie ein Memento des Todes, der draußen wütet. Mancher, der satt ist vom „Organisieren“, geht langsam durch die verlassenen Lagerstraßen. Alles wartet, niemand weiß, worauf eigentlich ... So schleicht der Vormittag dahin, der Mittag vergeht, und allmählich wendet sich die Sonne nach Westen.

Neuer Waffenlärm hat begonnen, fast will es scheinen, als nähere sich der Kampf aufs Neue. Wieder kreisen deutsche Flugzeuge über dem Lager und werden beschossen, alle stehen vor den Baracken und blicken zum Himmel auf. Nur so kann es geschehen, dass ungesehen ein Motorrad das Lagertor passiert und am riesigen Halbkreisplatze haltmacht. Doch schon ist es von den Ersten erspäht, alle stürzen hin und bleiben starr vor Erstaunen und überwältigender Freude: Ein russischer Soldat springt vom Sitz. In Sekunden eilen alle, die gehen oder kriechen können, zum Platz, fallen dem Soldaten um den Hals.

Da stehen sie nun alle, die Hitlers Schergen zusammenschleppten aus ganz Europa, und sie, die hartgesottenen, unbeugsamen Männer vereint die Träne. Da ist der deutsche Kommunist, der zwölf unendlich scheinende Jahre gewartet hat, der verbissen sein Ideal hochtrug, und neben ihm der junge Russe, als Kind noch aus seinem Heimatdörfchen weggeführt, der keine Eltern mehr hat, für den seine Heimat ein längst vergangener Traum ist. Da stehen die stolzen Westeuropäer, die sich nicht deutscher Knute beugen wollten und lieber den Weg ins KZ gingen, als ihre nationale Ehre fallen zu lassen, und an ihrer Seite ihre Landesgenossen, die sich verkauft hatten um spärlichen Gewinn, den sie nun teuer bezahlen mussten.

Da sieht man Juden aus ganz Europa, die ein gütiges Schicksal aus den Höllen des Ostens rettete, die aber auch schon ihrem Tode entgegengingen. Der erste Augenblick der Freiheit sieht sie ohne hervorbrechenden Jubel, kein Ton der Freude entringt sich ihrer Brust, nur das Wasser der bitteren Tränen steigt in ihre Augen. Doch dann ist diese Erschütterung vorbei, sie heben den Soldaten auf die Schultern, tragen ihn ins Lager, Schreie des Jauchzens klingen auf, und mit einem Mal dröhnt aus Hunderten Kehlen die Weise der Internationale [15] zum Himmel. Menschen, ideenweit von dieser Anschauung entfernt, singen sie mit im Vollgefühl über die wiedergewonnene Freiheit ... Die Töne ziehen mit den Menschen fort in die Baracken, damit es alle wissen sollen, dass das KZ für sie vorbei ist ...

Am Spätabend bringt ein Kurier der Roten Armee die Botschaft, dass keine Soldaten das Lager betreten sollen, da noch immer die Gefahr einer Beschießung durch die Deutschen besteht. Und am nächsten Morgen sollen alle Gehfähigen das Lager verlassen. Eine Nacht vergeht ohne Schlaf, die wievielte schon in ununterbrochenem Lauf?

Als am nächsten Tage die ersten Sonnenstrahlen ins Lager dringen, beleuchten sie ein Bild, wie es im Laufe der Jahre nicht gesehen war: Menschenmassen sammeln sich am großen Platze, mit ihrem armseligen Gepäck, aber mit strahlenden Gesichtern, aus denen die Zukunftsfreude leuchtet; dem schwächsten Muselmann spricht wieder Lebensmut aus den Augen, seine Haft hatte also doch einen Zweck, er hat nicht gehungert und geschuftet, damit er dann elend verreckt, er wird sich wieder eine Existenz schaffen, wird aus Trümmern ein neues Dasein beginnen.

Jetzt öffnet sich das Tor, der Schwall ergießt sich ins Freie. Durch die Straße, die man nur vom Marschtritt der Arbeitskolonne kannte, ziehen freie Menschen: Männer und Frauen, Burschen und Mädchen, die schon wieder frohe Lieder singen, wie einst in einer Heimat, die vielleicht tausende Kilometer entfernt liegt. Vorbei an den Häuschen, wo die SS-Mörder wohnten, an den Schranken, hinter denen Tod und Verderben lag, durch den Ort, dessen Bewohner nicht ahnten, was ein paar hundert Meter weiter geschah. Doch kaum sind sie auf der Landstraße, als plötzlich Motorenlärm über ihren Häuptern ertönt und deutsche Tiefflieger niedersausen. Will sie Deutschland noch nicht aus seinen Klauen lassen, will es jetzt noch in seiner eigenen Todesstunde andere mit sich reißen in die Hölle? Aber noch bevor die Flieger dazu kommen, ihr verheerendes Werk auszuführen, schießen russische Flieger herbei, verjagen sie und stellen sie dann in einiger Entfernung zum Luftkampf. Der letzte Angriff ist das gewesen, der Weg ins neue Leben geht ungehindert weiter.

Marschkolonnen des Heeres kommen den Wandernden entgegen, fragen nach Woher und Wohin, und als sie alles hören, die vereinzelten Worte von Tod und Not, als sie die Gesichter sehen, die diese abgezehrten Gestalten in schlotternden Fetzen haben, da machen die Soldaten kurze Rast: verteilen ihre Lebensmittel, fragen wieder und wieder, versuchen Trost zu geben. Hier und da findet einer einen Landsmann, ab und zu hört man ein „scholem alechem“ [16] eines polnischen Juden, der einen Glaubensbruder getroffen hat. Jetzt weiß keiner zu sagen, was er für fremde Völker, für politische Parteien empfand, alle umschließt eine Freude: Wieder frei! Als sie am Nachmittag das erste Dorf erreichen, in dem keine Zivilisten sind, geben ihnen die Soldaten Quartier und Nahrung. Todmüde sinken sie zum ersten Mal seit Jahren in ein menschliches Bett, die Augen schließen sich zum ersten ruhigen Schlafe, der Traum umfängt sie, und seine schönsten Bilder sind nicht mehr Gaukeleien, können in dieser Freiheit doch noch wahr werden. Leicht beugt sich die Nacht über die Schläfer, deren Qualen beendet sind ...

[1] Die SS („Schutzstaffel“), ursprünglich eine kleine paramilitärische Formation der NSDAP, entwickelte sich zu einer der größten und mächtigsten Organisationen des „Dritten Reichs“ und machte sich im Zweiten Weltkrieg unzähliger Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig.
[2] Ein in den Niederlanden von den nationalsozialistischen Besatzern errichtetes Durchgangslager für Jüdinnen und Juden, von wo aus diese in die Konzentrations- und Vernichtungslager weiterdeportiert wurden.
[3] Tschechisch für Theresienstadt.
[4] Im Osten von Deutschland gelegenes Bundesland.
[5] An der Grenze zwischen Deutschland und Polen gelegene Region.
[6] Region um den Fluss Oder, teilweise in Polen, Deutschland und Tschechien gelegen.
[7] Polnisch Nysa, Stadt in der im Süden Polens gelegenen Region Oberschlesien.
[8] Polnisch Katowice bzw. Mysłowice, zwei Städte in Oberschlesien.
[9] Französisch für „Gehen wir!“
[10] Schutzpolizisten.
[11] Bezeichnung für die KZ-Häftlinge in ihrer gestreiften Häftlingskleidung.
[12] Häftling, der zur Aufsicht über andere Häftlinge eingesetzt wurde.
[13] Gemeint ist wohl der SS-Transportleiter.
[14] Verszeilen aus dem Epos „Die Albigenser“ des österreichischen Dichters Nikolaus Lenau (1802–1850).
[15] Internationale Hymne der Arbeiterbewegung.
[16] Jüdische Begrüßungsformel, hebräisch für „Friede sei mit euch“.