Margarethe Budroni

Der Masernmann

Margarethe Budroni wurde am 16. Mai 1935 in Wien geboren. Ihr Vater Josef Zloch betätigte sich als Zugsführer in der Untergrundbewegung der Eisenbahner aktiv am Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Er wurde am 6. Jänner 1942 von der Gestapo abgeholt, in verschiedenen Polizeigefängnissen schwer misshandelt und schließlich in die Konzentrationslager Mauthausen und Dachau deportiert. Margarethe Budroni und ihre Mutter mussten sich regelmäßig bei der Polizei melden und waren Demütigungen und Schikanen ausgesetzt.

Am 16. Mai 1935 wurde Wien zu meiner Geburtstadt, also war es nicht schwer vorauszusehen, dass die bald einsetzenden politischen Ereignisse in Österreich auch mich und meine Familie einholen würden.

Meine Mutter Leopoldine, Hausfrau, und mein Vater Josef Zloch, beschäftigt bei den Bundesbahnen (bald Deutsche Reichsbahn), bauten ihrem einzigen Kind ein behütetes, liebevolles Nest, das mit dem Dreikönigstag 1942 jäh auseinanderbrach.

Vorbote dieser Katastrophe war für mich der "Masernmann". Er war ein stiller, blasser Mensch, der nicht viel sprach und den ich auch nicht verstand, wenn er sprach. Er benutzte meine Couch im Wohnzimmer, war scheu und verschwand bei jedem Klopfen an der Tür ins elterliche Schlafzimmer.

Es war um die Weihnachtszeit 1941, und ich durfte keine meiner neuen Schulfreundinnen einladen. Ich wünschte ihn weit fort, was auch bald geschah. So plötzlich wie er gekommen, war er auch verschwunden. In mir stiegen Zweifel auf, ob ich denn doch geheime Zauberkräfte tief in mir hätte. Ernste Ermahnungen meiner Eltern, dass dieser Mensch unser "Familiengeheimnis" sei, machten die ganze Sache noch beeindruckender. Bald darauf brachen bei mir ganz heftig die Masern aus, und mir wurde klar, dass er, den ich weggewünscht hatte, nicht nur der Verursacher meines hohen Fiebers sein könne, sondern auch allen anderen Unheils, das kurz darauf auf uns niederging.

Im Morgengrauen des 6. Jänner 1942 rissen mich nicht die Heiligen Drei Könige aus meinen Fieberträumen, sondern heftiges Klopfen und Rufen dreier Männer in Ledermänteln. Ich sah, wie sie schreiend meinen Vater aus dem Bett zerrten, auf ihn einschlugen, meine Mutter wegstießen und sie dabei stark aus der Nase zu bluten begann. Sie krempelten das Unterste unseres Mobiliars zuoberst. Ich lag auf der Couch im Wohnzimmer und zitterte zwischen Tuchent und Leintuch so sehr, dass meine Füße keinen Halt fanden. Dann beugte sich ein schrecklicher Schatten über mich, harte Finger ergriffen mich und schleuderten mich in eine Ecke. Diese Gestalt räumte buchstäblich mein Bett aus. Ob er nach meinem Teddy suchte, mit dem ich immer schlief? Dieser lag jetzt am Boden. Ich langte danach. Sein Fußtritt traf mich am Oberarm, ich hörte ihn schreien: "Na Bankert, wo habt ihr's versteckt?" Mir wurde klar, dass dies alles die schreckliche Rache des "Masernmannes" war, und ich wimmerte diesen Namen aus tiefster Überzeugung. Zum Glück lag mein "Geständnis" nicht auf der Ebene des Verstehens der Gestapo-Männer, und bald zogen sie ab – mein Vater mit ihnen.

Ich wusste es damals nicht, aber ich würde ihn erst am 28. Juni 1945 wiedersehen. Ein nur 39 kg leichtes Gespenst, an Leib und Seele zerbrochen. Dazwischen lag seine Odyssee durch verschiedene Gefängnishäuser wie Elisabethpromenade, Mittersteig und vor allem Morzinplatz [1] sowie durch die Höllen von KZ wie Mauthausen und Dachau. Zurückgeblieben in dem Chaos waren ich, ein schluchzendes Elend, und eine laut weinende Mutter, die beim ziellosen Auf- und Abgehen plötzlich grauenhaft gallig-gelben Schleim mit weißen Papierbröckeln auf unseren Teppich erbrach. Ich fühlte mich schuldig. Auch sie bekam wahrscheinlich jetzt die Masern.

Mit diesem Paukenschlag begann der Teil meines Lebens, den ich immer wieder ins Vergessen gedrängt habe und dem ich jetzt zum ersten Mal eine chronologische Abfolge zu geben versuche.

Heute weiß ich, dass mein Vater, in tschechischer und polnischer Sprache geprüft, als Zugsführer seinen Sprachkenntnissen gemäß diesen Reiserouten zugeteilt war und eine nicht unerhebliche Rolle in einer Untergrundbewegung der Eisenbahner innehatte, die zuerst jüdische Kinder, später auch einzelne Erwachsene aus Polen in von Deutschen unbesetze Gebiete schaffte. Bei meinem "Masernmann" hatte die Übergabe nicht mehr funktioniert, und er musste bei uns in Deckung gehen. Rechtzeitig vor dem Verrat gewarnt, konnte ihn Vater irgendwo verstecken. Sein Schicksal ist mir unbekannt geblieben.

Mein Vater war auch ein Kassier, Verwalter von Geldern, die diese Transaktionen kosteten und auch Opfern und ihren Angehörigen zugute kamen. Die Gestapo hatte nach Unterlagen, als Bestätigung für diese Tatsachen, bei unserer Hausdurchsuchung gefahndet, jedoch nie gefunden, weswegen mein Vater bis zur Befreiung durch die Amerikaner in Dachau immer in "Untersuchungshaft" gewesen ist und nie verurteilt wurde.

Viel später hörte ich jedoch meine Mutter schmunzelnd sagen: "Ich hätte damals doch die Papierln nicht essen sollen!" Sie hatte es tatsächlich fertiggebracht, unbemerkt mit ihrer blutenden Nase an die einfachen, klein gehaltenen Blätter heranzukommen und sie einfach zu verschlucken.

Damals aber begannen für mich die großen Veränderungen in meinem kurzen Leben. Bald begannen, angeordnet, die wöchentlichen Freitagsprozessionen für mich und Mutter zur Gestapo zum Morzinplatz. Wir mussten uns melden, bekamen die blutstarren Fetzen, sprich das Gewand meines Vaters, ebenso seine Schuhe, und durften vorgeschriebene frische Kleidung mitbringen, wobei es nicht immer sanft zuging. Der Tag davor, der Donnerstag, war immer mein "Bauchwehtag". Zwei dieser "Vorsprachen" sind mir gut in Erinnerung geblieben. Ich wurde von meiner Mutter getrennt, in einen Nebenraum gebracht und von einem stramm-deutschen Onkel zuerst zu einer Schokoschnitte eingeladen und dann an meinen beiden Zöpfen mit harten Worten wie "verstockte Göre" wieder zur Mutter zurückgezerrt. Die jetzt kurze Schilderung dieser Geschichte dauerte damals länger als eine halbe Stunde und handelt zuerst von netten, artigen Fragen und endete in Geschrei und Gebrüll. Ich wusste, dass sich die Fragen um meinen "Masernmann" drehten, und obwohl ich diesen selbst nicht leiden konnte, witterte ich instinktiv Gefahr, und ich beschloss, meinen Mund nicht zu öffnen, weder für die Schnitten, noch um irgendwelche Fragen zu beantworten. Am Schluss muss ich eher einer weißen Wachsfigur geähnelt haben als einem lebenden Kind, und so fühlte ich mich auch.

Das zweite Mal ging es gröber zu: Ein Wiener mit breitem Dialekt stieß mich gleich in den anderen Raum, gab mir eine schallende Ohrfeige und befahl mir, endlich meine "Goschen" aufzumachen, damit ich meine Mutter noch einmal sehen könne. Nach einem nochmaligen Schlag ins Gesicht, wobei er mich mit "Hundsfott, Arsch und Hurenkind" bezeichnet hatte, versicherte er mir, dass jetzt alles von mir abhänge, ob meine Mutter jetzt dorthin komme, wo mein Vater sowieso schon sei und wir übrigens alle hingehörten. Ich hatte keine Ahnung, wo das war, aber er machte mir mit Nachdruck klar, dass ich, wenn ich mein "Maul" nicht endlich aufmachte, in ein Heim käme. Das war mir nicht ganz siebenjährigem Knirps einfach zu viel. Ich begann zu heulen und schluchzte immer "Masernmann" in mich hinein. Ich hatte das "Familiengeheimnis" verraten, und alles um mich herum erschien mir ein total schwarzes Loch, in das ich jetzt versank. Zum Glück verstand mein grobes Gegenüber immer nur den ersten Teil meines Gebrabbels, und so stieß er mich, völlig aufgelöstes Etwas, meiner weinenden Mutter im Nebenraum an die Seite. Von nun an kam zum "Bauchwehtag" auch die "Zitternacht", die Nacht davor.

In dieser Zeit machte ich einige neue Entdeckungen: Nicht nur Papier konnte als Schreibunterlage verwendet werden, auch eine Schuhsohle, auf der es meinem Vater gelang, ein unentdecktes Lebenszeichen zu geben. Dann gab es auch Spaziergänge vor Gefängnishäusern, vor denen ich an Mamas Hand fleißig auf und ab marschieren musste, in der Hoffnung, von meinem Vater durch irgendwelche Gitterstäbe gesehen zu werden (ich erinnerte mich Jahrzehnte danach daran, als meine Tochter durch Zufall am Mittersteig eine Wohnung bezog). Mit der Verlegung meines Vaters auf den Mittersteig verzichtete die Gestapo großzügig auf meine Mitwirkung. Mama musste jedoch wöchentlich hin zum Rapport mit dem Verbot, Wien über Nacht zu verlassen.

Ich spürte auch, dass Armut bei uns einzog, da man uns großzügig nur einen Teil von Vaters Gehalt bewilligte. Im gleichen Maß zogen sich Bekannte und Verwandte von uns zurück, Nachbarn begannen uns zu meiden und bezeichneten uns offen mit "die Hure mit dem Bankert". Ganz schlimm war es, als die Fliegeralarme und Bombardierungen begannen. Alle liefen in den Luftschutzkeller, wir selbst wurden als "Volksschädlinge" nicht würdig befunden, unter ihresgleichen Schutz zu suchen. Viele regten sich mächtig auf, der Luftschutzwart schmiss uns eigenhändig hinaus. Also waren wir immer bereit, um beim ersten "Kuckuck" – Zeichen dafür, dass sich feindliche Flieger über Schleswig-Holstein nach Süden auf die Ostmark zubewegten – hinauszulaufen, in Straßen, wo uns niemand kannte, und bei dem darauf folgenden Alarm in fremden Kellern Unterschlupf zu finden. Bald fanden wir heraus, dass uns Zeit blieb, zum Stephansdom zu gelangen, um anonym in den Katakomben unser Schicksal abzuwarten.

Wir wohnten in einer Dienstwohnung, und die Menschen um uns machten uns das Leben unerträglich, aber wir hatten ein Dach über dem Kopf und zitterten darum, denn es war nur eine Frage der Zeit, wann wir dieses Dach verlieren sollten.

Unweit besuchte ich die Volksschule und hatte als Tochter eines nicht auszusprechenden Vaters keine Schwierigkeiten, solange ich unsere Direktorin als Klassenlehrerin hatte. Sie trug stolz das Emblem des Hakenkreuzes an der Brust, grüßte geübt und forsch mit erhobener Hand, ein Gruß, den wir bei jeder Kleinigkeit erwidern mussten. Sonst behandelte sie mich aber korrekt, obwohl sie um meine Hintergründe wusste. Im Übrigen hatte ich zu lügen gelernt, was mir anfangs besonders schwer fiel. Man hatte doch immer gelehrt, Lügen sei das größte Fehlverhalten aufrechter Menschen: "Mein Vater ist an der Ostfront, er ist Soldat." Als sich manche Schulkameraden wunderten, dass er nie auf Fronturlaub kam, war er halt plötzlich vermisst. Alles aber wurde anders, als ich in der dritten Schulstufe eine andere Klassenlehrerin bekam. Wie ein Lauffeuer war die schreckliche Nachricht durch die Reihen meiner Mitschüler gegangen. Man rückte von mir ab, manche spuckten vor mir aus, und die Lehrerin ließ dies zu. Ich hatte meinen Einzelplatz in der letzten Reihe, ich war zur geächteten Nichtperson geworden. Bald wurde Mama in die Schule gerufen, und man legte ihr nahe, dass die Entrüstung so vieler aufrechter Volksgenossen, in so schwerer Zeit, es nicht zulasse, dass ihre Kinder dieselbe Klasse mit mir zu teilen hätten. Mit dem wohlwollenden Versprechen der Direktorin, mich am Ende doch benoten zu wollen, war ich dem Schulzwang enthoben. Ein ungeheurer Glücksfall für mich. Ich durfte für die nächste Zeit zu Hause bleiben. Nicht lange, denn jetzt wurde uns das "zu Hause" genommen. Ganz einfach! Wir waren unerwünscht.

Unterschlupf fanden wir bei meiner Tante, Schwester meiner Mutter, eine der wenigen, die sich uns verbunden fühlten. Aber auch dies war nur ein kurzes Zwischenspiel für mich. Mutter hatte einen Pflegeplatz für mich gefunden. Der Verwalter eines Gutshofs in Streitdorf, Bezirk (Kreis) Stockerau, hatte sich gegen hohes Entgelt, das Tante dann für mich aufbrachte, bereit erklärt, mich aufnehmen zu wollen. Keine einfache Sache, galt ich doch für die damalige Gesellschaft gleich aussätzig. Irgendwo im fremden Dorf, allein mit fremden Menschen, hoffte ich jeden Abend, dass meine Mutter die häufigen Bombenangriffe in Wien überlebt habe und Vater im KZ noch am Leben sei. Ich hatte keine Schwierigkeiten in der einklassigen Dorfschule, und ich war dankbar und richtig stolz, dass ich mit anderen Kindern mittun durfte. Diese Tatsache tröstete mich ungemein über die Abwesenheit meiner Eltern und Sachlichkeit meiner Pflegeeltern.

Unendliches Glück erlebte ich im Drunter und Drüber der letzten Kriegsmonate. Meine Mutter konnte Wien entwischen, und ich hatte sie ganz bei mir. Wir hausten auf Gnaden eines Bauern, zuerst in einem Loch, dann in seinem Keller, verkauften alles, was wir noch besaßen, um zu überleben, und schliefen auf dem Boden. Ich war glücklich.

Den Einzug der russischen Armee erlebte ich Zehnjährige mit dem Bewusstsein einer Erwachsenen. Ein bleierner Deckel, der mich so lange Zeit niedergedrückt hatte, schien von mir genommen zu werden, und ein weites Aufatmen ging durch mein ganzes Sein. Ich hatte das riesige Glücksgefühl, dass alles von nun an nur besser werden könne. Wir drängten nach Wien zu meiner Tante, wohin wir auch auf abenteuerliche Weise gelangten. Am 28. Juni 1945 erblickte ich eine Gestalt, ein Gerippe, von dem ich nichts anderes mehr kannte als sein Lächeln – mein Vater, heimgekehrt aus dem KZ Dachau [2].

Nachtrag aus meinem Tagebuch: 16. Mai 1948: Mein dreizehnter Geburtstag. Ich habe mir von meinem Selbstgesparten eine Puppe gekauft. Ich habe mich vor dem Verkäufer geschämt und gesagt, sie sei für meine kleine Cousine – jetzt werde ich endlich in Ruhe spielen.

Margarethe Budroni ist am 16. Jänner 2012 in Wien verstorben.

Die Erstveröffentlichung dieses Artikels erfolgte in: Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): In die Tiefe geblickt. Lebensgeschichten, Wien: Edition INW 2000, Seite 35-39.

Dieser Artikel wurde auch veröffentlicht in: Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus, Band 2. Wien, 2012, Seite 90-97.

[1] Auf der Verlängerung des Schwedenplatzes, dem Morzinplatz, befand sich im damaligen Hotel Metropol der Sitz der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Wien.
[2] Im KZ Dachau von den amerikanischen Truppen befreit, war Josef Zloch zuvor auch das KZ Mauthausen mit seiner berüchtigten Todesstiege nicht erspart geblieben. Als Widerstandskämpfer hatte er den Naziterror überlebt und seinen Tribut für ein menschenwürdiges Österreich bezahlt: Der 43-Jährige war jetzt zu 90% Invalide.