Norbert Abeles

Ich glaube, dass ich im Großen und Ganzen noch Glück gehabt habe ...

Der Einmarsch ereignete sich neun Monate nach dem Tod meines Vaters, gerade als meine Mutter und ich (damals 14 ½ Jahre) uns von diesem Schlag erholt hatten.

Die erste Folge war das Ausbleiben der Witwen- und Waisengabe der Israelitischen Kultusgemeinde, wo mein Vater in der Wander- und Flüchtlingsfürsorge gearbeitet hatte. Meine Mutter und ich mussten von 80 Schilling im Monat, die wir von der Versicherung bekamen, auskommen. Weiters wurde meine Schulung – ich war damals in der fünften Klasse des Bundes-Realgymnasiums, Wien II – beendet. Ich wurde mehr als einmal tätlich angegriffen, aber weil ich noch jung war, wurde ich nicht, wie meine Verwandten, verhaftet. Etwa im Juli begann ich einen Umschulungskurs als Landarbeiter in der Nähe von Floridsdorf. Zur Zeit der "Reichskristallnacht" [1] waren meine Mutter und ich vier Tage in Haft. Meine Mutter und ich wurden aus unserer Wohnung gekündigt, kurz vor meiner Ausreise. Meine Mutter verlor dann unser Hab und Gut, wurde 1943 deportiert und ist verschollen. Die Waisenpension von der Versicherung kam nach meiner Ausreise auf ein Sperrkonto.

Ich fuhr am 10. Dezember 1938 mit einem Kindertransport [2] von Wien-Hütteldorf nach England. Dort herrschte gerade eine Kältewelle; mangels anderer Unterkunftsmöglichkeiten wurden Hunderte von Kindern (4-16 Jahre) in hölzernen Badehütten am Meer untergebracht. Die Meeresbucht war gefroren und die Wärmeflaschen waren in der Früh festes Eis. Kinder, die in diesem Lager gewesen waren, konnte man noch sechs Monate später an den zerkratzten Ohrmuscheln erkennen – sie hatten alle Erfrierungen erlitten.

Nach ein paar Tagen holte mich meines Onkels Frau und brachte mich nach Edinburgh in Schottland. Mein Onkel – ein Lungenspezialist – war früher nach Großbritannien gegangen, denn dort war ein Mangel an Spezialisten. Damals lebten er und seine Familie von Unterstützungen, denn er musste erst die britische Zulassungsprüfung ablegen. Ich wurde in einer Farmschule untergebracht. Das Ziel dieser Institution war es, junge Leute für Kibbutzim in Palästina auszubilden – ein Ziel, das mich wenig begeisterte. Die Ausbildung bestand aus Feld- oder Hausarbeit für Kost und Quartier und der Unterricht meist aus ideologischer Schulung.

1940 war ich drei Monte lang als "feindlicher Ausländer" [3] interniert. 1941 ging ich nach Glasgow, um mich als Facharbeiter für die Rüstungsindustrie auszubilden. Ich erhielt 27 Shilling in der Woche, wovon ich 21 für Kost und Quartier bezahlen musste. Dies bestand aus einem Zimmer mit drei Doppelbetten, in dem zwölf Personen wohnten – sechs in Tagschicht und sechs in der Nachtschicht. Anfang 1942 fand ich eine Stelle als Schlosserlehrling – ich hatte Tierarzt werden wollen. Neben der Arbeit ging ich in die Abendschule und erwarb das schottische Certificate of Fitness d.h. ich durfte auf die Universität gehen – wenn ich das Geld gehabt hätte. Bei der Arbeit erwies ich mich als so tüchtig, dass mein Ansuchen in die Armee zu gehen abgewiesen wurde, mit der Begründung, ich sei von der Arbeit unabkömmlich.

Im August 1950 heiratete ich meine erste Frau. Sie war eine Österreicherin aus Felixdorf, . Sie war während des Krieges auf der "anderen" Seite gewesen und ist 1948 zur Arbeit nach England gekommen. Trotz unseres unterschiedlichen Hintergrundes waren wir bis zu ihrem Tod 1976 glücklich verheiratet. Unsere zwei Kinder leben heute in England.

Ich glaube, dass ich im Großen und Ganzen noch Glück gehabt habe. Die Nachteile waren der Verlust der Mutter und anderer Angehöriger, das Zuhause, die materiellen und anderen Verluste, die nervliche und geistige Belastung, die Mühen, die mit meiner Ausbildung verbunden waren, das verspätete Erreichen derselben und dessen negative Auswirkung auf meine Karriere. Meine Frau und ich gingen 1956 nach Afrika, weil wir uns als "Ausländer" in Großbritannien nicht zu Hause fühlten, aber wir wegen meiner britischen Berufsausbildung in Österreich damals kein Weiterkommen sahen. Ohne all diese Hindernisse hätte ich es weiterbringen können und ich könnte jetzt bequemer und sorgenfreier leben.

Seitdem ich im Ruhestand bin, wohne ich in meinem eigenen Haus in einem größeren Dorf am Lake Malawi. Ich bin mit einer verwitweten Malawierin verheiratet und habe ihre zwei Kinder adoptiert.

Ich bin schon lange im sub-saharen Afrika und habe mich deshalb entschlossen, meinen Lebensabend hier zu verbringen, obwohl ich Österreich sehr liebe. Seit Jahrzehnten höre ich täglich Radio Austria International, und alle paar Jahre fahre ich mit meiner Frau nach Wien, wo ich noch Freunde habe. Ich bin aber dem Stress und der supermodernen Lebensweise und dem Klima in Österreich nach vierzig Jahren in Afrika leider nicht mehr gewachsen. Es war aber ein sehr schwerer Entschluss.

[1] Als "Reichskristallnacht" wurde der Pogrom gegen Jüdinnen und Juden auf deutschem Reichsgebiet in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 bezeichnet. Der Name leitet sich von den zahlreichen Fensterscheiben, die im Zuge dieser Nacht zerstört wurden, ab. Neben der Plünderung, Zerstörung und Beschlagnahmung von jüdischen Geschäften, Wohnungen, Synagogen und Bethäusern wurden tausende Jüdinnen und Juden verhaftet und zum Teil in Konzentrationslager deportiert, wo viele von ihnen ermordet wurden.
[2] 1938/39 wurden etwa zehntausend jüdische Kinder und Jugendliche mit so genannten Kindertransporten in das sichere Ausland, vor allem nach Großbritannien, geschickt.
[3] Mit Kriegsausbruch erklärte Großbritannien alle deutschen Staatsangehörigen auf britischem Staatsgebiet zu "feindlichen Ausländern" ("enemy alien") und internierte sie in speziellen Lagern. Das bekannteste Internierungslager befand sich auf der Isle of Man.