Anton Müller

Meine Nummer war Z6835

Anton Müller wurde am 27. März 1924 in Zahling/Burgenland als zweites von fünf Kindern einer Roma-Familie geboren. Von seinem siebten bis zum 14. Lebensjahr arbeitete er für Kost und Quartier bei einem benachbarten Bauern. Ab Juli 1938 wurden alle Burgenland-Roma, so auch Anton Müller, zur Zwangsarbeit verpflichtet. 1943 wurde schließlich die ganze Familie nach Auschwitz deportiert. Herr Müller kam 1944 über Ravensbrück nach Mauthausen, wo er die Befreiung erlebte. Anton Müllers Vater, eine Schwester mit ihren Kindern und ein Bruder mit Frau und Kindern haben die NS-Zeit nicht überlebt.

Der folgende Auszug aus der Lebensgeschichte von Herrn Müller wurde einem Interview aus der ZeitzeugInnen-Dokumentation "Mri Historija. Lebensgeschichten burgenländischer Roma" des Vereins "Roma Service" entnommen.

Die Kinder und Jugendlichen sind in die Schule gegangen und haben bei den Bauern gearbeitet. Einige sind auch auf Saison gefahren. [...] Ich bin dann nach Heiligenkreuz musizieren gegangen. Beim Kapellmeister meines Vaters, in Heiligenkreuz, habe ich spielen gelernt. Von meinem achten bis dreizehnten Lebensjahr habe ich musiziert. Ich habe immer gearbeitet, ich habe musiziert, war [beim Bauern] in Dienst, habe im Straßenbau und beim Bohrturm gearbeitet. Die Häuser in Zahling, wo ich in Dienst war, stehen noch. Aber die Alten sind schon gestorben. Die Schule habe ich nur vier Jahre besuchen können, weil der Hitler schon in der Nähe war. Wir haben uns nicht mehr getraut. So habe ich halt aussetzen müssen. [...] Daheim ist es uns nicht so gut gegangen. Unsere Eltern waren froh, dass ich bei den Bauern mein Leben und meine Unterkunft gehabt habe. […] Ich bin vom Dienst beim Bauern dort [zur Zwangsarbeit nach Königsdorf] hingebracht und als so genannter Wasserbub, als Zuträger, eingesetzt worden. Die SSler, die die Aufsicht hatten, haben alle aus der Gegend gestammt. […]

Nach der Deportation der ersten Zahlinger Roma-Familien flüchtete die Familie in die Steiermark und fand Unterschlupf bei einem Bergbauern, die männlichen Familienmitglieder wurden aber einige Zeit später verhaftet. Da die Mutter von Anton Müller keine Romni war und einen Ariernachweis besaß, kam er schließlich wieder frei. Er wurde zum Reichsarbeitsdienst (RAD) einberufen, konnte aber nach sechs Monaten in seinen Heimatort zurückkehren.

Als ich vom RAD zurückgekommen bin, haben sie uns bald verhaftet. Wir sind in Privatlastwägen nach Fürstenfeld transportiert worden. Dort sind wir in Viehwaggons hineingepfercht und direkt nach Auschwitz deportiert worden. Das war im Frühjahr 1943. Meine Mutter hätte nicht mitgehen müssen, da sie als "Arierin" gegolten hat, aber sie hat uns nicht fortlassen wollen. Mein Vater hat noch versucht, sie davon abzuhalten, aber es ist nicht gegangen. [...] Uns ist ja immer gesagt worden, zuerst in Fürstenfeld, dann im Zug, dass wir in Polen Arbeit bekommen, Geld verdienen und schön leben würden. Die Jüngeren würden arbeiten, die Älteren würden betreut werden, so haben die Versprechen gelautet. Aber als ich gesehen habe, wie sie [mit Gummiknüppeln] zugeschlagen haben, habe ich natürlich gewusst, dass sie uns angelogen hatten. [...]

Und als wir in Birkenau angekommen und die Leute ausgestiegen sind, haben die einen dahin, die anderen dorthin müssen, die [älteren] Frauen hier, die jüngeren Frauen dort. Die Jüngeren haben als Arbeitskräfte gegolten, die Älteren sind in die Gaskammer gekommen. So war das. Nur die Arbeitskräfte sind überhaupt ins Lager hineingekommen. Drei Tage später bin ich dann tätowiert worden. Meine Nummer war Z6835. Sie haben bei eins angefangen, und ich war die Nummer 6835. [...] Sobald du die Nummer bekommen hast, ist es besser geworden. Weil die Nummer hat bedeutet, dass man arbeiten gehen kann. Und die, die keine Nummer bekommen haben, sind in die Gaskammer gekommen. Die gleiche Nummer hat man auch neben dem schwarzen Winkel [1] gehabt. Die schwarzen Winkel waren für Zigeuner [2], die gelb-roten Sterne für Juden [3], die roten [Winkel] waren für die Politischen, die grünen für Berufsverbrecher und die violetten für Bibelforscher [4]. [...] Es hat mehrere Abteilungen in Birkenau gegeben: eine für die Zigeuner, eine für die Juden und so weiter. Es waren doppelte Reihen, und dazwischen ist die Lagerstraße hindurchgegangen. Die Kinder und Frauen sind ebenfalls in einer eigenen Baracke untergebracht worden. Aber die Frauen, die ganz kleine Kinder und Babys gehabt haben, sind an der Rampe zu den Alten gestellt worden. Sie sind auch in den Gasraum gekommen und danach verbrannt worden. Meine Schwester hat ja auch drei Kinder gehabt, ein Baby war auch dabei, und sie haben sie verbrannt. [...]

Wenn du krank geworden bist – angenommen, du hast 40 Grad Fieber gehabt –, war es gescheiter, du bist arbeiten gegangen. Ist man ins Spital gekommen, war man weg, man hat einfach eine Spritze bekommen, meistens eine Wasserspritze, und war tot. Auch wenn man halb tot gewesen ist, hat man arbeiten müssen. Sobald du krank gewesen bist, viele haben ja nicht mehr können, hast du keine Chancen mehr gehabt. [...]

Ich war beim Kanalbau, händisch graben und Rohre verlegen. Ich war auch bei den so genannten Entlausungen dabei. Wenn ein neuer Transport gekommen ist, ist alles durchsucht worden, und wir haben den Schmuck in große Tonnen hineinschmeißen müssen. Wo er hingekommen ist, weiß ich nicht, am Abend war bereits alles verschwunden. Dann sind sie [die neu Angekommenen] in den Gasraum hineingekommen, haben ein Handtuch und eine Seife erhalten und sind nicht mehr herausgekommen. Wenn wir etwas gesagt hätten, sie gewarnt hätten, wären wir selber dran gewesen. 15.000 ungarische Juden sind in einer Nacht verbrannt worden, vom Zug gleich zum Krematorium. Ich mag nicht mehr daran denken. [...]

Wenn wir das Lager verlassen haben müssen bei 30 Grad Kälte, sind etliche gleich liegen geblieben. Sie sind auf der Stelle erfroren. Einfach erfroren. Aber die, die sich ein bisschen zu helfen gewusst haben, haben Zementsäcke genommen, die sie bei der Arbeit verwendet haben, haben sie durchgeschnitten und innen angezogen. Wenn sie dich dabei erwischt hätten, hätten sie dich gleich erschlagen. Und du glaubst nicht, wie warm ein Papier ist – wärmer als ein Gewand. […]

Geschlagen worden bin ich wie ein Vieh, mit dem Gewehrkolben haben sie meine Zähne zerschlagen, ein anderes Mal habe ich 25 [Schläge] bekommen. In Birkenau war das Männerlager durch einen Zaun vom Frauenlager, wo meine Mutter war, getrennt. Einmal hat sie mir von ihrem Brot die Hälfte herübergeworfen. Als ich das Brot habe zusammenklauben wollen, bin ich erwischt worden. Ein SSler hat mich mit dem "Ochsenzahm" – so haben sie die Peitsche genannt – geschlagen. Ich habe mitzählen müssen, bin aber nur bis fünf gekommen. 14 Tage habe ich kaum gehen können und immer auf dem Bauch liegen müssen. Trotzdem habe ich hinausgehen müssen, um zu arbeiten. […]

Die Befreiung habe ich in Mauthausen erlebt. […] Bevor ich nach Mauthausen transportiert worden bin, war ich aber noch 14 Tage lang im KZ Ravensbrück. Ravensbrück war eine Zwischenstation auf dem Weg von Birkenau nach Mauthausen. Ich war mit den russischen Inhaftierten zusammen, und wir haben im Wald Holz schneiden müssen. […] In Ravensbrück sind die Männer kastriert worden. Die, die sich haben kastrieren lassen, sind entlassen worden, aber ich habe mich nicht kastrieren lassen. Dann bin ich nach Mauthausen gekommen. […] Gott sei Dank habe ich nicht im Steinbruch arbeiten müssen. Ich war einer von fünf Inhaftierten, die Musik spielen haben können, und war der Lagerkapelle zugeteilt. […] Wir haben mit unserer Kapelle die Arbeiter hinausbegleitet, der Steinbruch war ungefähr 150 Meter entfernt, und so lange gespielt, bis alle hinuntergegangen sind. Jeden Tag. Am Abend haben wir sie um 19 Uhr wieder abgeholt. […] Während des Tages habe ich im Lager gearbeitet: Straßen reinigen, Klo reinigen, Tonnen ausleeren, Haare schneiden, alles halt, was angefallen ist. Das war unsere Arbeit. In Mauthausen ist es uns besser gegangen als in Auschwitz, weil wir Musiker und alle, die im Lager gearbeitet haben, einen Löffel Suppe als Zuschlag bekommen haben. So habe ich am Leben bleiben können. […]

Als ich befreit wurde, habe ich gedacht, dass die Welt jetzt mir gehört. Aber viele sind erst nach der Befreiung gestorben. Wir haben ja überall hingehen dürfen, haben machen können, was wir wollten. Keiner hat was sagen dürfen. Überall sind die Gläser [mit Lebensmitteln] aufgemacht und gegessen worden – viele haben die Ruhr bekommen und sind gestorben. Aber ich bin mit einem alten Rom […] heimgegangen, und er hat zu mir gesagt: "Du, wenn du mit mir heimgehen willst, halte dich so, wie ich es dir sage. Iss nichts Fettes! Wir essen trockenes Brot, vielleicht ein bisschen was dazu, und so wirst du gesund bleiben." Und so sind wir heimgekommen. Ich habe nur mehr 35 Kilo gewogen. […]

Nach der Befreiung durch die US-Amerikaner und einem mehrmonatigen Lazarettaufenthalt kehrte Anton Müller im Herbst 1945 nach Zahling zurück. Die dortigen sowjetischen Soldaten – darunter auch einige Roma – erlebte Herr Müller als sehr anständig und die Roma unterstützend. Es gelang ihm, sich eine neue Existenz aufzubauen. Um seinen Kindern Benachteiligungen aufgrund ihres Familiennamens zu ersparen, ließ er seinen Namen ändern. Über seine Erlebnisse während der KZ-Haft hat Anton Müller viele Jahre nicht gesprochen.

Nach dem Krieg haben mich ja die Leute vom Ort ausgefragt, sie waren neugierig, aber ich habe kein Wort erzählt. Sie hätten mir ohnehin nicht geglaubt. Soll ich es wem erzählen, der dann fortgeht und sagt, er wurde zum Narren gehalten?

[1] Stoffdreiecke auf der Häftlingskleidung.
[2] Bzw. "Asoziale".
[3] Für als "politische Häftlinge" inhaftierte Juden und Jüdinnen.
[4] ZeugInnen Jehovas.