Chava Guez

Damals, in der schönen Stadt Wien

Chava Guez wurde am 1. August 1936 als Eva Friedländer in Wien geboren. Josef Friedländer, der Vater von Chava Guez, wurde im Zuge des Novemberpogroms 1938 festgenommen und bis April 1939 im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Von November 1939 bis Februar 1940 wurde die ganze Familie in einem Sammellager in Wien festgehalten. Im September 1940 gelang es der Familie Friedländer, mit einem Schiff nach Palästina zu flüchten. Die britische Mandatsregierung untersagte jedoch die Einwanderung nach Palästina und hielt sie bis Dezember 1940 im Lager in Athlit an der palästinensischen Küste fest. Danach wurden sie nach Mauritius deportiert, wo sie bis zum Kriegsende in einem Lager festgehalten wurden. Heute lebt Chava Guez in Israel. In einem fiktiven Tagebuch beschreibt sie ihre Erinnerungen an ihre letzten Tage in Wien.

Wissen Sie, ich kann einfach kein "Tagebuch" über meine Kinderzeit schreiben. Aber ich kann einzelne Tage einer Zeitspanne beschreiben, die mir damals wie ein ganzes, langes Leben vorkam. Außerdem kann ich kaum mehr auf Deutsch schreiben, obwohl Deutsch eigentlich meine Muttersprache hätte sein sollen.

Tag Eins

Es ist beinahe Dämmerung, und in das Zimmer, wo ich in einem Kinderbett (auf dem Boden?) liege, dringen letzte Sonnenstrahlen. Ich sehe deutlich meine Eltern vor mir, die über irgendetwas streiten.

Tag Zwei

In Wien regnet es, und zwischen den Pflastersteinen sammelt sich Wasser. Ich habe wunderschöne Hosen mit Gamaschen an. Sie bekommen Kotspritzer, weil ich im Wasser herumsteige. Werde ausgeschimpft. Das Ganze lustig, es wird gelacht. Links und rechts von mir meine Eltern.

Tag Drei

Jause. Mein kleiner Freund Peter und ich kriechen unter das schwere, bestickte Tischtuch. Da uns fad ist, nehmen wir eine Schere und schneiden aus dem Tischtuch Manderln. Bekommen strenge Strafen. Peter, wo bist Du? Erinnerst Du Dich noch?

Tag Vier

Soll vor einer Freundin von Mama ein Knickserl machen. Weigere mich aber und werde in den dunklen Gang hinausgestellt. Will mich um keinen Preis entschuldigen.

Tag Fünf

Ausflug. Gehe vorsichtig Stufen hinunter, um mit Mama und Papa in der Donau zu baden. Ein Tag im Grünen. Kieselsteine tun weh.

Tag Sechs

Große Aufregung. Eine anscheinend sehr wichtige Rede im Radio. Alle furchtbar aufgeregt. Viel Kommen und Gehen. Eine Menge neuer Gesichter. Fragen ohne Antwort.

Tag Sieben

Noch größere Aufregung. Streitereien. Papa geht nur spät am Abend aus dem Haus. Wache in der Nacht oft auf. Man hängt dunkle Vorhänge auf. Papa verschwindet, und Mama bleibt stundenlang fort. Bleibe bei Großmama und Hermine. Haus sehr still.

Tag Acht

Komme in den Kindergarten. Aufregung. Viele, viele unbekannte Kinder. Weine jämmerlich. Erzieherische Maßnahme: werde in "Papageienkäfig" gesteckt. Erschrecken. Höre auf zu weinen. Kinder tanzen um den Käfig. Habe Lektion gelernt. Der Kindergarten ist in einem heruntergekommenen Haus. Erinnerung an obligatorischen Nachmittagsschlaf noch heute lebendig. Nicht sehr erfreulich. Enge Betten. Überall kleine Schläfer. Am Ende Glückseligkeit: Nachhauseschlendern am Abend und frische Maroni. Herbst in Wien. Sehr, sehr kühl.

Tag Neun

Tante Mitzi. Sagt, das Kind muss ein letztes Mal in den Prater. Tante Mitzi in kuschelweichem Pelzmantel. Plötzlich ein Wachmann. Habe keine Angst. Wir stehen beide vor einer Schaubude, zwei Ritter in Rüstungen reiten aufeinander zu. Turnier. Wachmann sagt, Kind muss leider auf die Polizei, weil jüdisch. Genaue Erinnerung ans Kommissariat, denn vom Parterre an Stacheldraht das ganze Stiegenhaus hinauf bis vielleicht in den Himmel. Schlafe ein. Wache auf, als es schon dämmert. Gehe nach Hause. Wieder glücklich.

Tag Zehn

Zum Spielen eingeladen. Werde rasch nach Hause gebracht, weil etwas Unartiges gesagt. Weiß nicht mehr was, höre aber später, ich hätte gesagt: "Der H. soll krepieren."

Die Nacht

Schwere Stiefeltritte gegen die Eingangstür. "Schnell! Öffnen!" Fliege auf den Boden, da man mich aus dem Bett reißt. Es geht drunter und drüber. Papa wird gesucht.

Tag Elf

Einsam. Haus leer. Sehr still. Großmama regungslos. Türglocke. Großmama an der Tür: "Was wünschen Sie?", und ich (oh Seligkeit): "Papa, wo sind Deine Haare?" Papa ist zurück (Dachau), und jetzt wird alles wieder gut.

Tag Zwölf

Großmama ist nicht mehr. Dunkle Vorhänge über großen Spiegeln. Haus leert sich schnell. Möbel, Bettzeug, Bilder, alles.

Tag Dreizehn

Die Donau. Das Schiff. Am Kai durchsuchen sehr große, gestiefelte Männer armseliges Gepäck. Habe überhaupt keine Angst. Bemerke alles. Onkel Ludwig, eine Salami in der Hand, läuft sehr schnell, um uns nicht zu verpassen. Wie werde ich mir Onkel Ludwig merken?

Auf immer und ewig

Ein Stück Wien ist in meinem Herzen. Dreißig Jahre und einen Tag danach. Ich gehe durch die Straßen von Wien, und alles ist mir so fremd. Oder ist es: Wien, Wien nur Du allein, Du kannst die Stadt meiner Träume sein?

Die Erstveröffentlichung dieses Artikels erfolgte in ähnlicher Form am 15. April 1988 in der Wochenzeitung "Die Furche" (44. Jg./Nr. 15). Die Veröffentlichung dieses Artikels in der vorliegenden Version erfolgte in: Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus. Wien, 2010, Seite 130-135.