Hans Reichenfeld

… ich werde lieber Cello spielen

Hans Reichenfeld wurde am 26. Februar 1923 in Wien geboren. Ab Ende April 1938 durfte er hier als Jude das Akademische Gymnasium nicht weiter besuchen. Das Schuljahr konnte er noch in einem Gymnasium im zweiten Wiener Gemeindebezirk abschließen. Im August 1938 verließ Hans Reichenfeld Österreich. Er wurde von einer Schule in Großbritannien als Schüler angenommen.

Als nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges deutsche bzw. ehemalige österreichische Staatsangehörige auf britischem Staatsgebiet von Großbritannien zu "enemy aliens" – "feindlichen Ausländern" – erklärt und in Internierungslager verbracht wurden, wurde 1940 auch Hans Reichenfeld interniert und nach Kanada verschickt. 1941 kehrte er nach Großbritannien zurück. Von 1944 bis 1947 diente er in der Royal Air Force. 1952 konnte er sein Medizinstudium in London abschließen. Dr. Hans Reichenfeld lebt heute in Kanada.

Isidor Ernst Reichenfeld, der Vater von Hans Reichenfeld, war praktischer Arzt in Wien und wurde während des Novemberpogroms 1938 verhaftet. Bis März 1939 blieb er inhaftiert. Wenige Tage nach seiner Entlassung konnten Isidor Ernst Reichenfeld und seine Frau Klara ebenfalls nach Großbritannien emigrieren.

Hans Reichenfeld hat in seinem Tagebuch die Ereignisse und unmittelbaren Folgen des "Anschlusses" Österreichs an das Deutsche Reich für ihn als jüdischen Schüler des Akademischen Gymnasiums in Wien aus seiner Sicht festgehalten. Seine vollständige Autobiografie "On the Fringe" ist im April 2010 in der deutschen Übersetzung von Katharina und Ludwig Laher mit dem Titel "Bewegtes Exil. Erinnerungen an eine ungewisse Zukunft" im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft in Wien erschienen.

Wien, 7. April 1938

Für mich persönlich hatte der "Umbruch" zunächst die angenehme Folge, dass acht Tage keine Schule war. Am ersten Schultag war dann für die "arischen" Schüler eine Feier. Danach hielt der kommissarische Leiter der Anstalt, der Turnprofessor Schmidt, an die Juden des Akademischen Gymnasiums eine herrliche Ansprache, in der er vom jüdischen Weltbolschewismus faselte und erklärte, wir seien jetzt ein Gastvolk und hätten uns auch so zu benehmen. Er werde aber auch dafür sorgen, dass wir nicht provoziert würden. Dann hatten wir knapp zwei Wochen "Schule". Von normalem Unterricht konnte natürlich keine Rede sein. Erstens waren die jüdischen Professoren sofort hinausgeflogen, so dass wir keinen Lateinlehrer hatten. Dann hatten wir von Montag bis Mittwoch nachmittags und von Donnerstag bis Samstag vormittags Unterricht, weil die Stubenbastei wegen Militäreinquartierung zu uns übersiedelt ist. So hatten wir jeden Tag statt fünf Stunden nun vier. Aber auch von diesen vier Stunden fielen oft ein, zwei oder gar drei weg, weil irgendein Bonze aus dem Reich angekommen war. Und wenn wir schon Unterricht hatten, so konnte vorkommen, was unser Chemiker Milan zweimal machte, dass der Herr Professor einfach erklärte, er habe Kopfweh und könne nicht unterrichten, wir sollten machen, was wir wollten. Ansonsten war aber regelmäßiger Unterricht. Die christlichen Mitschüler verhielten sich hochanständig, sie tragen natürlich ausnahmslos das Hakenkreuz, aber es hat noch kein einziger gestänkert. Als dann Judenbänke eingeführt wurden und die Juden auf der einen, die Nichtjuden auf der anderen Bankreihe saßen, sagte Wagner nach der Stunde zu uns: "So ein Blödsinn das, wir haben da früher so ein schönes Grätzel gehabt, wir haben uns unterhalten und uns eingesagt, jetzt ist das alles vorbei."

Die Lehrer müssen zu Beginn und am Ende der Stunde mit "Heil Hitler" grüßen, sind aber bis jetzt ganz nett, nur der Geographieprofessor Waldemar Waldner [...] ist bei den Juden strenger. Auch sagte er bei der Besprechung von Palästina: "Jetzt, wo die Juden ja nach und nach aus allen Ländern Europas hinausgefeuert werden, suchen sie halt eine Heimat in Palästina."

Jetzt ist seit dem 2. April frei, und ich renne von Konsulat zu Konsulat, ich habe es aber schon aufgegeben, weil für Ärzte ja nirgends Aussicht ist.

Unlängst ging ich am Nachmittag durch die Viktualienhalle [1], als mich ein S.A.-Mann hoppnahm und ich mit vielen anderen die Halle kehren musste. Das machen sie nämlich sehr gern, dass sie Juden die Schuschnigg-Aufschriften wegreiben lassen, zur größten Belustigung des Wiener Pöbels. In der Halle standen auch die Leute dicht gedrängt, um diesem herrlichen Schauspiel zuzuschauen. Mir machte das nicht das Geringste, ich musste ein paar Mal sogar lachen, als ich die Leute sah, die da stundenlang mit gespannter Aufmerksamkeit zuschauten, wie ein paar Juden auskehrten.

Aber es muss in Wien nicht nur gemeinen Pöbel, sondern auch mutige Leute geben. So sah ich gestern vor der Oper, dass die Bemalung der Straßenbahnhaltestelle "Ein Volk, ein Reich, ein Führer, am 10. April" [2] mit roter Farbe überstrichen war, vor der Oper! Da gehört doch schon eine tüchtige Portion Mut dazu. Auch sieht man schon viele Plakate, die heruntergerissen sind. Nur kann das alles eben nichts mehr ändern.

Jetzt spricht Heß, der Stellvertreter des "Führers", ich werde ihn mir aber nicht anhören, sie sagen eh alle dasselbe, ich werde lieber Cello spielen.

Onkel Ludwig hat heute einen Unfall gehabt, es ist ihm aber G.s.D. kaum etwas passiert. Nur eine kleine Gehirnerschütterung und einige Schrammen. Ich werde ihn vielleicht morgen besuchen.

Wien, 28. April 1938

In der Schule war zunächst bloß die Veränderung, dass die Juden in die rechte Bankreihe und die Nichtjuden in die linke gesetzt wurden. Die Mitschüler waren sehr anständig, und auch über die Lehrer kann ich mich nicht beschweren. Im Gegenteil, Bauer hat sogar einige Male den Nazis tüchtig wider den Strich geredet. Dass er von dem Hitlergruß vor und nach der Stunde nicht begeistert war, das ging jeden Tag aus der Art hervor, wie er grüßte. Montag nun hatten wir nachmittags Turnen, und da bat ihn am nächsten Tag Scholz, nicht zu prüfen. Darauf sagte er: "No, was soll ich denn machen, ich muss ja vieles tun, was ich nicht gerne mache!" Dann sagten wir den Homer auf. Als wir fertig waren, bemerkte Bauer: "Çernik, seit dem 20. Vers lesen Sie aus dem Buch heraus, aber ich sage Ihnen gleich jetzt, wenn Sie glauben, dass Sie wegen Ihres Kleides bei mir durchkommen werden, und von mir aus können Sie es überall erzählen, und wenn Sie wollen, gebe ich es Ihnen jetzt schriftlich, dass Sie wegen angeblicher Verdienste in Griechisch bei mir nicht durchkommen werden, denn Deutsch sein, heißt bei mir etwas arbeiten." Çernik ist nämlich ein Obernazi, und außerdem (oder deshalb?) der schlechteste Schüler der Klasse. Gestern sagte er etwas Ähnliches: Er werde sich nicht genieren, die Leute, die nichts können, durchfallen zu lassen. Gleichgültig, ob sie da oder dort säßen. Aber heute wurde ihm die Gelegenheit genommen, auch die Juden durchfallen zu lassen, weil wir heute aus dem Akademischen Gymnasium hinausgeworfen wurden. Das geschah folgendermaßen: Wir kamen wie gewöhnlich um 8 h in die Schule. Doch es läutete nicht, es wurde 5 min nach 8 h, 10 min nach 8 h, ¼ 9 h, und noch immer läutete es nicht. Wir glaubten schon, der Nowak sei verrückt geworden. Endlich, um 8 h 25, fing die Glocke an zu läuten. Einige Minuten später betrat Bauer das Zimmer, in der Hand den Hauptkatalog. Da wussten wir natürlich schon, wie viel es geschlagen hat. Dann wurde eine Liste der jüdischen Schüler aufgenommen, Geburtsdaten und ob sie nichts von der Schule ausgeborgt hätten. Dann kam "Direktor" Turnlehrer Schmidt und sagte uns, wir sollten um 11 h die entliehenen Sachen wieder zurückstellen und hätten uns morgen um 11 h [...] in der Zirkusgasse einzufinden. Jetzt seien wir entlassen. Darauf verabschiedeten wir uns von unseren christlichen Kollegen und gingen nach Hause.

[1] Markthalle im 3. Wiener Gemeindebezirk.
[2] Tag der Volksabstimmung.