Lore Bolwell

Heimweh nach den Bergen

Lore Bolwell wurde am 18. April 1925 in Prag geboren. Sie lebte mit ihrer Familie in Salzburg. 1938 musste die Familie, da sie jüdisch war, Salzburg verlassen. Frau Bolwell lebt heute in Großbritannien. Ihre Mutter, ihr Großvater und viele weitere Verwandte kamen im Holocaust ums Leben.

Ich musste kurz nach dem "Anschluss" das Realgymnasium verlassen, wurde aber schon vorher geschnitten und verleumdet. Die Familie verließ Salzburg im Sommer 1938, nach Besuch und Drohungen der Gestapo.

Wir zogen nach Aussig (Sudetenland) [1], und nachdem die Nazis dort einmarschierten, nach Prag. Nach dem deutschen Einmarsch dort flohen wir nach Holland. Von dort aus floh mein Vater nach England.

Als der Krieg in Holland ausbrach, wurde meine Mutter ausgewiesen, ich trug den gelben Stern und wurde in einer Klosterschule versteckt. Ein Wohltäter beschaffte mir falsche Papiere. Dann aber fanden die Nazis heraus, dass ein "deutsches Mädel" in der Schule war, und sie holten mich zur Arbeit als Telefonistin.

Sie fanden aber doch heraus, wer ich war, und ich war auf dem Weg nach Belsen [2]. Nicht mit einem Transport, ein Mann von der OT [3] brachte mich hin. In Hamburg – oder Hannover, ich weiß es nicht mehr – war ein Bombenangriff, und ich entkam.

Ich lebte dann im Wald oder in Heustadeln, und ich lebte von dem, was ich von den Feldern stehlen konnte. Als es Winter war, ich am Verhungern und nur im Sommerkleid, fand mich ein deutscher Offizier, dem ich natürlich nicht die Wahrheit sagte, und ich arbeitete wieder als Telefonistin bei einer Flak-Einheit [4].

Als die Amerikaner kamen, "desertierte" ich und kam in verschiedene so genannte Repatriierungslager in Belgien und Frankreich, wo man uns misshandelte, vergewaltigte und aushungerte. Es waren hunderte von Menschen dort, viele nur, weil sie vor vielen Jahren einen deutschen Mann geheiratet hatten.

1946 fand mich mein Vater durch das Rote Kreuz, und am 1. März 1946 kam ich nach Großbritannien.

Meine Mutter, mein Großvater und andere Verwandte kamen in Auschwitz, Treblinka und Sobibór um.

Mein Studium konnte ich nicht wieder aufnehmen, und ich litt viele Jahre unter Angstzuständen und Depressionen und großem Heimweh nach den Bergen – immer noch!

Dieser Artikel wurde auch veröffentlicht in: Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus, Band 2. Wien, 2012, Seite 60-63.

Lore Bolwell ist im August 2012 in Großbritannien verstorben.

[1] Aussig an der Elbe/Ústí nad Labem: Stadt im Norden der heutigen Tschechischen Republik.
[2] Bergen-Belsen: Konzentrationslager bei Bergen in Niedersachsen, Deutschland.
[3] Organisation Todt: militärisch gegliederte NS-Bauorganisation, die vor allem für Baumaßnahmen in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten eingesetzt wurde.
[4] Flak: Fliegerabwehrkanone.