Rudolf Karger

Ich war ein Spiegelgrundkind

Rudolf Karger wurde am 16. Juli 1930 in Wien geboren. Von September 1941 bis September 1942 war er in der berüchtigten Kinderanstalt "Am Spiegelgrund", errichtet im Juli 1940 auf dem Gelände der Heil- und Pflegeanstalt "Am Steinhof" in Wien. Dort wurden bis 1945 im Zuge der nationalsozialistischen "Kindereuthanasie" fast 800 kranke bzw. geistig beeinträchtigte Kinder ermordet. Anschließend wurde er nach Mödling in das ehemalige "Hyrtl'sche Waisenhaus" gebracht, eine NS-Erziehungsanstalt, wo den Kindern mit brutalsten Methoden die NS-Ideologie eingebläut wurde.

Ich bin am 16. Juli 1930 in Wien geboren und in Ottakring in einer Gemeindewohnung, bestehend aus einem Zimmer, einem Kabinett und einer Küche mit Kaltwasseranschluss, aufgewachsen. Meistens wohnten dort zwölf Personen, davon vier Kinder. Von den acht Erwachsenen waren meistens nur drei beschäftigt, die anderen ohne Beschäftigung, arbeitslos. Es war keine gute Zeit.

Als am 12. März die deutschen Truppen in unser schönes Österreich einmarschierten, mit großem Jubel und Trara, war das für mich und meine Angehörigen kein Jubeltag. Zuerst wurde einer meiner Onkeln in der Nacht zum 12. März 1938 aus der Wohnung geholt und anschließend in das KZ Dachau gebracht, weil er sich erlaubte, einige Tage vor dem Einmarsch der deutschen Truppen vor Leuten zu sagen: "Wer braucht schon A. H. [1] bei uns in Österreich?" Er wurde von den Leuten vernadert [2] und verbrachte zwei Jahre dafür im KZ Dachau.

Ich und meine beiden älteren Schwestern Alice, geb. 1929, und Elfi, geb. 1927, waren außerehelich, was in dieser Zeit noch als Schande gegolten hat. Die Mutter verstarb schon im Jahre 1936 mit 29 Jahren, als ich sechs Jahre war, und mein Vater war für uns Kinder nicht zugegen. Als meine Schwester Elfi 1927 zur Welt kam, war mein Vater erst 16 Jahre alt und meine Mutter 19 Jahre. Aus welchem Grund immer, mein Vater war unerwünscht mütterlicherseits und meine Mutter unerwünscht väterlicherseits. So wuchs ich mit meinen beiden Schwestern ohne Eltern auf. Erziehungsberechtigt war meine Großmutter mütterlicherseits, jedoch, da wir außerehelich geboren sind, war unser Vormund das Jugendamt. 1938 wurde das Jugendamt zum Reichsjugendamt erklärt, und wir drei Kinder waren für das NS-Regime unerwünscht, obwohl wir weder geistig noch körperlich behindert waren.

 

Es war Pflicht, am "Deutschen Jungvolk" [3] teilzunehmen, dem blieb ich jedoch fern. Eines Tages marschierte in der Thaliastraße vor mir eine Kolonne Hitlerjugend mit der deutschen Fahne voran. Mit meinen elf Jahren dachte ich nicht daran, die Fahne mit ausgestrecktem Arm zu grüßen. Und schon bewegte sich der Anführer aus der Kolonne heraus und versetzte mir zwei kräftige Ohrfeigen, weil ich die Fahne nicht gegrüßt hatte. Einmal wurde ich nach 21 Uhr von der Polizei beim Nachhausegehen aufgegriffen, da ich mit zehn Jahren schon gerne Theateraufführungen besucht habe. Das brachte mir Ohrfeigen ein, und meine Großmutter musste mich spät nachts vom Polizeirevier abholen. Auch verbrachte ich mehrmals die Nacht schlafend auf der Bodenstiege, wenn mein Onkel zuhause war. Vor ihm hatte ich große Angst, weil er mich mit Gewalt ohne Grund verprügelt hat. So wartete ich am Boden, bis er morgens wieder weggegangen war. Dies alles wurde dem Reichsjugendamt gemeldet über mich – waren das die Gründe meiner Einlieferung am Spiegelgrund?

So gab meine Vormundschaft – das Reichsjugendamt – den Weg frei, mich einzuliefern in die Kinderanstalt "Am Spiegelgrund"! Dort hatte A. H. Doktoren und Helfer, die sein Parteiprogramm, alles zu vernichten, was nicht vollwertig war für sein "Großdeutsches Reich", [umsetzten]. Gekonnt zeigten seine Helfer ihre Bereitschaft, uns Jugendliche und Kinder beiderlei Geschlechtes zu quälen. Wir mussten Leid ertragen und immer bereit sein zu sterben.

Am 1. September 1941 kam ich mit elf Jahren von der Kinderübernahmestelle im 9. Bezirk, Lustkandlgasse, auf den Spiegelgrund. Der 1. September war ein wunderschöner Herbsttag. Ich weiß nicht, auf welchen Pavillon ich gebracht wurde. Entweder war es der Pavillon 7 oder 9. Alle sahen von außen gleich aus – es handelte sich um Ziegelbauten, wie sie auch jetzt noch bestehen. Als ich in den Pavillon hineingeführt wurde, war er menschenleer. So konnte ich mich umsehen, wo ich gelandet war. Die Türen waren verschlossen und die Fenster mit Gittern versehen. Der Pavillon bestand aus einem langen Flur, einem Tagesraum, einem Baderaum mit Brausen, einem großen Schlafsaal mit ca. 25 Betten, einer kleinen Teeküche und einem Dienstzimmer – alles pickfein sauber gehalten. Zirka gegen 16 Uhr vernahm ich lautes Gemurmel, und nach der Öffnung der Tür kamen so ca. 25 Jungen in meinem Alter rein, begleitet von zwei Pflegerinnen, die eigentlich nett wirkten. Aber nächsten Tag merkte ich schon, dass sie zu uns Jugendlichen sehr brutal waren.

Einiges ist ja jetzt schon bekannt, was man mit uns getan hat an Grausamkeiten. Und doch möchte ich einiges von dem Leid anführen, welches ich an mir verspüren musste:

Ohrfeigen gab es jeden Tag. Nächtelang mussten wir, nur mit dem Nachthemd, das bis zu den Knien ging, bekleidet, vor den Betten stehen – im Sommer bei zugemachtem und im Winter bei geöffnetem Fenster.

Gewaltmärsche. Einmal sogar bis zum Polizeirevier am Praterstern. Einer von uns Jungen ist abgehauen, den mussten wir abholen. Spiegelgrund – Praterstern und zurück Praterstern – Spiegelgrund. Als wir alle am Spiegelgrund ankamen, waren wir vor Müdigkeit total erschöpft. Der Zorn richtete sich gegen den Geflüchteten, den wir wieder zurückbringen mussten. Eine Freundschaft zwischen uns Jugendlichen gab es nie. Wir wurden "auf böse untereinander getrimmt", und bei Bestrafung wurde immer gesagt, das könnt ihr "ihm" verdanken.

Einmal in der Woche gab es zu Mittag Griesbrei, aber nicht mit Vollmilch, Butter und Schokolade darauf. Nein, nur aus Magermilch, dünn und mit Bröckerln. Das mussten wir essen. Einer von uns schaffte das nie. Zwei Pflegerinnen schoppten ihm, Mund auf, Nase zu, [das Essen rein]. Er erbrach es immer am Teller, und die Prozedur dauerte, bis der Teller leer war und er es runtergeschluckt hatte. Derweilen mussten wir den Quälereien zusehen und dabei Strafe stehen.

Dann bekamen wir die berühmten Speiinjektionen, wo wir erbrachen und große Schmerzen hatten. Bei der Befragung von Dr. H. Gross [4] bei seiner Verhandlung [5], weswegen er das an uns verbrochen hat, meinte er ganz locker, das war ja harmlos, damit wir nicht übermütig werden.

1941 erlebte ich auch mit der ganzen Gruppe den Weihnachtstag. Im Tagesraum wurde ein Christbaum aufgestellt mit nichts darauf, und stundenlang mussten wir davor Strafe stehen, ohne uns zur rühren. Das war mein und unser Weihnachtsabend. Es gab für uns nichts Heiliges oder gar Geschenke.

Strafe stehen, stundenlang, das war gang und gäbe. Tag für Tag.

Einmal im Monat durfte mich meine Großmutter kurz besuchen und sprechen. Meiner Großmutter erklärten sie immer in meiner Gegenwart, wie gut sie uns umsorgten. Gerade dass sie uns nicht erschlagen haben. Meiner Großmutter erzählte ich nie, was sie mit uns gemacht haben, das Leid und die Schmerzen, die sie uns ertragen ließen. Hätte ich etwas davon erwähnt, womöglich wäre meine Großmutter in die Direktion gelaufen, um sich darüber zu beschweren, was uns angetan wird. Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass man meine gute Großmutter in ein Lager gebracht hätte.

Bei einem Ausgang hatte ich die Gelegenheit zu flüchten. Vor Heimweh lief ich nach Hause zu meiner Großmutter. Keine zwei Stunden später läutete es schon an der Tür. Zwei Pflegerinnen vom Spiegelgrund waren schon da, um mich wieder zurückzubringen. Meiner Großmutter versicherten sie, dass das für mich keine Folgen haben würde. Ich aber wusste schon, was mit mir geschehen würde – wie bei allen, die geflüchtet waren. Und das blieb mir auch nicht erspart. Kaum wieder am Spiegelgrund, da bekam ich Ohrfeigen, dass ich glaubte, jetzt werde ich taub. Am Fenster stand schon die ganze Gruppe schweigend und musste Strafe stehen. Die Kleider wurden mir vom Körper heruntergezerrt, und vor der ganzen Gruppe – als Abschreckung – wurde mir eine Glatze geschnitten. Das war damals eine große Strafe. Die Haare wurden mir nicht geschnitten, sondern mehr mit der Schere rausgerissen. Blutig und zerkratzt wurde ich anschließend in das Badezimmer gezerrt. Die Badewanne mit kaltem Wasser war schon hergerichtet für mich. Ich wurde in die Badewanne gestoßen und viele Male untergetaucht, dass mir voller Schmerz die Luft wegblieb. Prustend und Wasser schluckend wehrte ich mich, und voller Verzweiflung riss ich den Stöpsel von der Badewanne heraus. Darauf wurde ich mit Gewalt aus der Badewanne gezerrt und eine Viertelstunde unter die kalte Brause gestellt. Es war schrecklich, ich konnte mich kaum noch bewegen und wurde vom Baderaum auf den Flur gestoßen. Auf den Knien kriechend, musste ich unter Schlägen durch die Gasse der Schlagenden durch. Dann streifte man mir ein Nachthemd über, und ich wurde in die Kinderfachabteilung 15 oder 17 gebracht. Die Pavillons, wo das Sterben alltäglich war.

Unklar weiß ich noch, ich wurde in eine Zelle gesteckt, hatte viel Hunger, bekam schmerzhafte Spritzen. Ich sah nur Männer und Frauen, die weiß bekleidet waren und zu mir nicht gut waren. Wie lange ich auf Pavillon 15 oder 17 war, weiß ich nicht. Heute bin ich mir bewusst, ich war auf der Klinik von Dr. H. Gross, der sich die Gehirne aus den gequälten Kindern holte für seine Wissenschaft. Und habe die Überzeugung in mir, ich blieb davon verschont, weil ich vermutlich kein geeignetes Hirn für Herrn Dr. H. Gross hatte. Anschließend wurde ich auf den Pavillon 11 gebracht. In die Strafgruppe. Auch dort waren wir etwa 20 Burschen, die in Unwürde gefallen waren und die als noch schlimmer betrachtet wurden als die, die auf Pavillon 7 oder 9 untergebracht waren. Der Strafsatz war der gleiche wie auf Pavillon 7 oder 9. Bloß der eine Unterschied, keine Pflegerinnen, sondern Pfleger. In Erinnerung bleibt mir besonders, dass wir unter anderem stundenlang die Betten aufreißen und danach die Laken immer wieder millimetergenau in eine Richtung bringen mussten.

Ich war bereits ein Jahr am Spiegelgrund, als ich unvorbereitet am 4. September 1942 mit cirka 70 oder 90 Jugendlichen in das Nazi-Erziehungsheim Mödling gebracht wurde. Es war das ehemalige Hyrtl'sche Waisenhaus, das zu einem NS-Erziehungsheim umgewandelt wurde für uns "schlimme Kinder"! Vorwiegend militärischem, strengem Drill und einer Gehirnwäsche hat man uns dort unterzogen. Wir mussten alles auswendig lernen – unter strenger Bestrafung beim Vergessen – über A. H. und sein politisches Idealprogramm des "1000-jährigen Reiches".

Am 7. Juli 1943 durfte ich wieder zu meiner Großmutter. Sie war immer bestrebt, uns drei Kinder wieder zu sich nach Hause zu bringen.

Diese Zeit und meine Leiden am Spiegelgrund leben in mir noch immer unvergessen weiter, als ob es jetzt erst gewesen wäre und nicht vor 69 Jahren. Die Erlebnisse am Spiegelgrund waren menschenunwürdig und nach den Berichten der damaligen Zeit noch verschönert. Wir wurden als "Versuchskaninchen" gebraucht: Mittels diverser Spritzen wurden Medikamente an uns getestet, wir wurden kalten Duschen ausgesetzt und im Winter in nasse Decken gehüllt und vieles mehr. Dieser schmerzhafte einjährige Aufenthalt am Spiegelgrund hat meine Kindheit, meine Jugendzeit und auch meine Zukunft zerstört.

Mein Aufenthalt war auch grausam, weil man meine Weiterbildung verhindert hat. Es gab keinen Schulbesuch. Geprägt vom Spiegelgrund, stand ich ohne Chance der Zukunft gegenüber. Mit der einmaligen Entschädigung [...] durch den österreichischen Nationalfonds lässt sich das gar nicht gutmachen, was man an mir verbrochen hat. Ich war kein Lerngenie, aber auch kein Dummerl. Aber durch den Aufenthalt am Spiegelgrund nahm man mir die Chance, für die Zukunft besser gestellt zu sein. Beruflich und finanziell blieb ich benachteiligt.

Als Zeitzeuge bin ich fallweise in Schulen tätig, um darüber zu sprechen – von den ungeheuerlichen, in der NS-Zeit an uns Kindern und Jugendlichen [begangenen Verbrechen]. Der Aufenthalt am Spiegelgrund brachte uns Leid, Schmerz und Tod. Wir waren dem Regime unerwünscht, minderwertig, nicht lebenswürdig. Und ich finde es sehr gut, wenn Menschen [...] mit viel Mühe und Zeitaufwand diese Verbrechen aus der NS-Zeit nie in Vergessenheit bringen und aufzeigen. [...]

Über meine Tätigkeit als Zeitzeuge wurde mir die Ehre zuteil, von der Wiener Landesregierung in Würdigung meiner großen Leistungen als Zeitzeuge das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien verliehen zu bekommen.

Rudolf Karger ist am 30. Jänner 2015 gestorben.

Die Erstveröffentlichung dieses Artikels erfolgte in: Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus. Wien, 2010, Seite 206-212.

[1] Adolf Hitler.
[2] Denunziert.
[3] Organisation der Hitlerjugend für 10- bis 14-jährige Buben.
[4] Dr. Heinrich Gross: berüchtigter österreichischer Arzt am Spiegelgrund.
[5] Gemeint sind die Verhandlungen gegen Dr. Gross In der Nachkriegszeit.